Thomas Edlinger, Margarete Jahrmann, Zahra Mani, Sebastian Fasthuber (von links) im Büro von Ana Berlin Communications
Monika Saulich
Thomas Edlinger, Margarete Jahrmann, Zahra Mani, Sebastian Fasthuber (von links) im Büro von Ana Berlin Communications

Kunst und Digitalisierung

„Wir sollten selbstbestimmt handeln“


Digitale Medien verändern die Wahrnehmung und Produktion von Kunst. Corona beschleunigt diesen Trend. morgen lotete mit drei Kulturschaffenden die Lage aus.

„Das hätten wir jetzt auch streamen können“, sagt Margarete Jahrmann ganz am Ende des Gesprächs. Haben wir aber nicht gemacht. Stattdessen saßen wir im Wiener Büro von Ana Berlin Communications um einen Tisch. Neben Jahrmann, Medienkünstlerin und künstlerischer Forscherin, nahmen der Donaufestival-Leiter und Radiojournalist Thomas Edlinger sowie die experimentelle Musikerin Zahra Mani an dem realphysischen Round Table teil.

morgen: Die Digitalisierung ist in fast allen Lebensbereichen angekommen und bereits unsere Realität. Sie wird von vielen als unvermeidlich angesehen, geliebt wird sie für mein Gefühl aber von weniger Menschen. Welche Art von positiver Ermächtigung könnte sie in der künstlerischen Praxis bieten?

Thomas Edlinger

:

In einem großen, gesamtgesellschaftlichen Rahmen stellt sich die Frage gar nicht mehr, ob wir diese Entwicklung wollen oder nicht. Wir leben schon in einer digitalisierten Gesellschaft und können uns nicht aussuchen, ob wir sie begrüßen oder verwünschen. In der Kunst stehen wir zum Teil noch recht am Anfang. Ich habe neulich ein extra auf Zoom hin adaptiertes Theaterstück gesehen, das neuartig und kreativ mit dieser Form umgegangen ist. Man kann diese restringierten Bildformen schon interessant einsetzen.

Zahra Mani

:

Ich sehe durchaus Möglichkeiten der Ermächtigung. Künstlerinnen und Künstler, die noch nicht digital unterwegs waren, sind angewiesen darauf, neue Konzepte zu entwickeln. Man sucht nach Ausdrucksformen im digitalen Raum. Vieles ist möglich: kollaborative Prozesse, gemeinsam entwickelte Festivals, die Eigendynamiken annehmen und die Szene beleben.

Margarete Jahrmann

:

Ich mag den Begriff Digitalisierung nicht. Die meisten Wörter, die auf „-ung“ enden, sind furchtbar, denn sie sagen aus, dass etwas mit uns gemacht wird. Wir sollten aber möglichst selbstbestimmt handeln, das gilt auch und gerade für diese Sphäre. Die Frage ist: Warum sollen wir überhaupt etwas gegen diese Entwicklung hin zum Digitalen machen? Ich sehe darin auch einen Gewinn von Freiheit.

Mani

:

Ja, „-ung“-Wörter stellen eine Tat dar, während Infinitive einen Prozess beschreiben. Wenn wir digitalisieren, nehmen wir aktiv an einem Prozess teil, im Gegensatz zu einer in sich abgeschlossenen Digitalisierung.

Frau Jahrmann, kann man Sie auch als Technoromantikerin bezeichnen? Einst galt das Internet als utopischer Raum. Dann wurde es kommerzialisiert und zum Marktplatz. Gibt es einen Weg zurück?

Jahrmann

:

Ich kann die Technoromantikerin nicht abstreiten. Aber einen Weg zurück gibt es nicht, oder er wäre langweilig. Wahrscheinlich muss man einen Umweg wählen und Wege beschreiten, die neue Handlungsspielräume eröffnen. Oft sind es nur ein paar kleine Schritte, die schon die Erfahrung von Souveränität mit sich bringen. Bei meinen ersten Programmierversuchen hatte ich einst das Gefühl, ich kontrolliere die Welt. Zumindest kann ich beeinflussen und mitgestalten, was herauskommt. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber ich habe Hoffnung, dass wir gute Wege finden.

In der Kunst stehen wir am Anfang.

Wie sind Sie durch dieses merkwürdige Corona-Frühjahr 2020 gekommen? Und wie hat sich die Digitalisierung in Ihrer Arbeit bemerkbar gemacht?

Mani

:

Wir alle haben Tools wie Zoom gebraucht, sehr viele Menschen sind schnell auf digitale Konferenzen umgestiegen. Ich habe auch einige Konzerte über Livestreams gemacht. Es darf aber nicht so sein, dass man unreflektiert sagt: Das ist das neue Jetzt und unsere neue Kommunikationswelt, wir gehen da einfach mit. Wir müssen definieren, was diese digitalen Räume für uns bedeuten, wie wir mit ihnen umgehen und sie nutzen. Denn nichts kann ersetzen, dass wir bei diesem Gespräch hier in diesem Raum sitzen und miteinander sind. Die zwischensprachlichen Elemente vermisse ich in der digitalen Kommunikation.

Jahrmann

:

Wir konnten viel erproben und uns aneignen. Ich habe versucht, die Digital-Conferencing-
Tools mit ihrem Kästchengitter spielerisch zu benutzen. Bei der ersten Session mit Studierenden haben wir gemeinsam ganz simpel ein Gesicht gezeichnet – die eine ein Auge, der nächste die Nase und so weiter. Das Resultat war wie ein spielerischer Arcimboldo – nur, dass statt Früchten und Blumen Körperteile ein Gesamtes bilden. So etwas nenne ich „Ludic Art“. Mitte März, wo so viel abgesagt wurde, habe ich gemeinsam mit Stefan Glasauer vom Forschungsprojekt „Neuromatic Game Art“ einen Livestream gestartet. Er funktioniert wie eine Dauerperformance mit nonverbaler Kommunikation. Anfangs haben wir jeden Abend gestreamt, unsere Hirnwellen übertragen, inzwischen machen wir das wöchentlich. Die Idee dahinter ist, im Digitalen eine physische Präsenz zu entwickeln und gleichberechtigt mit dem Publikum zu kommunizieren. So hätte man die digitalen Kommunikationstools, die es ja auch vorher schon gab, von Anfang an benutzen können. Mein Gefühl ist, dass wir durch Corona endlich einen souveränen Gebrauch davon geschafft haben.

Mani

:

Einen demokratischen, interaktiven digitalen Raum hätten wir tatsächlich schon vor Jahren gestalten und beleben können. Die Software hätte es bereits gegeben. Ich habe mit Kolleginnen und Kollegen aus vier Ländern in Echtzeit Livekonzerte gespielt – das geht erstaunlicherweise ohne Latenzen durch Synchronisierungstools, die ich bisher nicht kannte. Aber die Interaktion in einem Chatraum kann nicht die Kommunikation ersetzen, die man im intimen Rahmen eines Konzertabends hat.

Herr Edlinger, das Donaufestival musste heuer kurzfristig abgesagt werden. Wäre eine digitale Festivalform, ähnlich wie beim Bachmannpreis, keine Option gewesen?

Edlinger

:

Es war schlicht nicht genug Zeit, um ins Digitale auszuweichen. 2021 schaut das schon anders aus. Da müssen wir bis zu einem gewissen Grad zweigleisig planen und digitale Erscheinungsformen des Festivals stärker berücksichtigen. Vielleicht muss man sie auch erst erfinden. Auf der Performance-Ebene und bei den Lectures gibt es Ideen, was man Produktives machen könnte. Was ich nicht will, ist, Bühnenformate, wie sie im nicht-virtuellen Raum existieren, eins zu eins zu übersetzen – etwa ein Konzert nur abzufilmen. Man muss sich mit den Möglichkeiten des digitalen Raums genau auseinandersetzen. Was ist an Kreativität und Fantasie im Digitalen möglich? Es gibt auch Kombinationsmöglichkeiten zwischen Realraum und Digitalraum. Wir sind gezwungen das mitzudenken, aber es könnte darin auch eine Chance liegen, interessante Formate zu entwickeln. Vielleicht ist Corona der Anstoß zu einem kreativen Umgang mit dem, was wir Digitalisierung nennen.

Frau Mani, wie waren Ihre Erfahrungen mit Internet-Konzerten während des Lockdowns? Welche kreativen Möglichkeiten bietet Streaming?

Mani

:

Ich hatte drei besonders schöne und unterschiedlich schöne Erfahrungen. Die erste war mit Roberto Paci Dalò, einem Musiker und Radiokünstler aus San Marino. Er hat ab März jeden Tag um 17 Uhr mit einem Kollegen irgendwo auf der Welt live gespielt und gestreamt. Das war vollkommen spontan, ein musikalischer Austausch im digitalen Raum in real time. Das zweite war für Iklectik Off-Site, eine Plattform in London. Da wurde um vorbereitete Werke gebeten. Das war also ein neues Stück, das vor der „Uraufführung“ bereits performt wurde. Dafür war ich als Künstlerin im Livechat und habe mit dem Publikum interagiert. Am meisten Spaß gemacht hat ein Vier-Weg-Konzert im Auftrag der Steirischen Gesellschaft für Kulturpolitik: „News from Radio Yerevan“. Wir saßen in unseren Studios – in Ungarn, der Südsteiermark, Istrien und Rimini. Das Zusammenspiel auf Distanz schuf einen virtuellen Raum für einen kammermusikalischen, experimentellen Austausch. Fürs Ö1-Kunstradio werde ich das noch einmal remixen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass ich auch wieder mehr Sehnsucht nach der Ursprungsmaterie habe, je mehr ich mich im digitalen Raum bewege. Ich spiele irrsinnig gern auf Instrumenten und arbeite mit menschlichen Stimmen. Es gibt für mich nicht entweder das eine oder das andere. Das Digitale steht immer auch in Verbindung mit dem Körperlichen und Haptischen. 

Der Realraum bringt Kunstschaffende und Publikum zusammen. Können digitale Veranstaltungsformate eine vergleichbare Nähe herstellen?

Edlinger

:

Gerade bei einem Festival spielt die reale körperliche Nähe eine große Rolle. Es gibt diese schöne Erfahrung des Eintauchens in ein Festival. Vielleicht ist es möglich, eine andere Bedeutung von Nähe zu entwickeln. Ich weiß aber nicht, wie es funktionieren soll, abgekoppelt von der konkreten Gegenwart vor Ort trotzdem Bindungskräfte herzustellen.

Jahrmann

:

Meine Festivalerfahrungen sind, dass man einen anderen Bewusstseinszustand hat. Über längere Zeit bekommt man irrsinnig viel Input und Eindrücke, was die Wahrnehmung verändert. Diese Qualität in den digitalen Raum zu übernehmen, ist sicher schwierig. Ich finde hybride Formate spannend. Man soll sich nicht nur in einem virtuellen Raum abschließen. Interessant wird es, wenn wir im digitalen und physischen Raum miteinander in verschiedenen Bewusstseinszuständen spielen. Ich möchte in eine emotionale Interaktion kommen. 

Edlinger

:

Vieles passiert bei Konzerten ganz niederschwellig. Man steht im Publikum und raunt sich eine kleine Beobachtung zu. Das passiert ja dauernd. Und es gibt sofort eine Reaktion, auch eine körperliche. Lacht die andere Person? Fand sie die Bemerkung interessant, langweilig oder klug? Wie sich so etwas in dieser Leichtigkeit ins Digitale überführen lässt, weiß ich nicht. In Chats finde ich diese Qualitäten nicht.

Was geben wir von uns preis?

In der Musik gibt es künstliche Intelligenzen, die täuschend echte Songs etwa im Stile der Beatles herstellen. Werden Kunstschaffende im Digitalen irgendwann obsolet?

Edlinger

:

Diese Produktionstechniken sind tatsächlich sehr weit fortgeschritten. Es gibt sie auch im Bereich der klassischen Komposition. Selbst für Spezialistinnen und Spezialisten klingen solche Kompositionen im Stil von Mozart oder Beethoven täuschend echt. Wir sollten aber wegkommen von dieser Kunstvorstellung, dass nur zählt, wer weiter vorn und besser ist. Es mag ja sein, dass Computer besser Schach spielen können als Menschen. Aber was sagt das genau aus?

Jahrmann

:

Bei kreativen, unerwarteten Dingen können künstliche Intelligenzen nicht mit dem Menschen mithalten. Es ist zum Beispiel immer noch total schwierig, dass ein Roboter einen Ball aufnimmt. Das erste Bild, das von einer künstlichen Intelligenz erzeugt wurde, hat am Kunstmarkt zwar einen sehr hohen Preis erzielt, aber nicht wegen seiner Qualität, sondern weil es das erste war.

Mani

:

Für mich ist es nicht dasselbe. Kunst wird gemacht, beabsichtigt oder spontan zugelassen. Ich halte das, was künstliche Intelligenzen herstellen, daher nicht für Kunst. Mich ängstigt es aus diesem Grund auch nicht.

Wie sieht es mit der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Digitalisierung aus?

Mani

:

Ich finde es interessant, dass wir diesen Aspekt noch gar nicht angesprochen haben. Die digitale Welt ist in gewisser Weise auch bedrohlich. Das Internet wurde als Militärtool entwickelt und wird nach wie vor streng kontrolliert. Es gibt Überwachung und Gesichtserkennung. Wie gehen wir mit dem Internet um? Was geben wir von uns preis? Es bedarf neuer Gespräche über Big Data und über Verantwortung im virtuellen Raum, es braucht Aufklärung im Netz – frei nach Kant, einen Ausgang der Nutzerinnen und Nutzer aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Edlinger

:

Der Überwachungsaspekt ist wichtig. Den Begriff Mustererkennung gab es in der Soziologie schon vor über 100 Jahren. Heute werden hinter unserem Rücken über unsere Daten ständig Verhaltensmuster erkannt und ausgewertet. Das muss nicht per se schlimm sein. Aufgrund solcher Auswertungen lässt sich zum Beispiel auch erkennen, dass man in einer bestimmten Region mehr HNO-Ärztinnen braucht. Doch an einem anderen, uns unbekannten Ende dieser Blackbox weiß jemand anderer viel über uns. Und wir wissen nicht, was über uns gewusst wird. Und von wem. Das ist ein gruseliger Aspekt.

Jahrmann

:

Überwachungskapitalismus nach Shoshana Zuboff ist heute schon ein allgegenwärtiges Geschäftsmodell. Wodurch füttere ich es? Wie kann ich damit umgehen? Es ist sehr schwierig, sich aus diesem System herauszubewegen. Das ist ein großes Thema. Denn noch gefährlicher als die politische Überwachung finde ich die kapitalistische. Mit Online-Performances können  wir ein kritisches Bewusstsein dafür erreichen.

Edlinger

:

In den USA geht die Lebenserwartung zurück, man ist mit der Verarmung und Verelendung von Mittelschichten konfrontiert. Auf der anderen Seite haben die Internet-Milliardäre in den ersten drei Monaten dieses Jahres ein Vermögen von 434 Milliarden US-Dollar gemacht. Das ist elf Mal so viel wie die angeblich zugesicherte Corona-Staatshilfe von Österreich – das nur als Dimension. Dieser Überwachungskapitalismus hat eine enorme ökonomische Macht. Es ginge vielleicht auch ganz anders: Eine unheimliche, zugleich aber möglicherweise zukunftsträchtige Vorstellung ist die einer Superintelligenz, die aus allen Daten die entsprechenden Schlüsse ziehen und ein ökologisches Weltprogramm, oder, hart gesagt, eine politisch kaum mehr beeinspruchbare Ökodiktatur herstellen könnte. ● ○