Andreas Gießwein Copyright Romana Scheffknecht, Landessammlungen Niederösterreich

Österreichischer Museumstag

Reif fürs Museum


Flexibilität ist alles in diesen Tagen. Auch der 31. Österreichische Museumstag in Krems reflektiert die Ereignisse dieses Frühjahrs, die Museen vor ungekannte Herausforderungen stellten. Unter dem Titel „Ort der Originale – aus der Krise neue Chancen für Museen“ laden mehrere Institutionen (Museumsbund Österreich, ICOM Österreich, Donau-Universität Krems, die Landessammlungen Niederösterreich, Kunstmeile Krems) zu Vorträgen, Workshops und Führungen. Welche neuen digitalen Wege gehen Museen? Wie können sie gemeinsam forschen, wie bringen sie Objekte zum Sprechen? Und wie sammeln sie die Gegenwart? Diese Fragen diskutieren Fachleute von 7. bis
9. Oktober. Einige der Vortragenden haben wir bereits jetzt zu Gesprächen gebeten. Und dabei unter anderem erfahren, welche Bedeutung Laien in der Forschung haben, wieso winzige Häuser symptomatisch für unsere Zeit sind und welche Art von Mäusen die Landessammlungen Niederösterreich beherbergen. 

kunstmeile.at/de/museumstag-2020

Sammeln der Gegenwart

Grab oder Schatz


Sammeln der Gegenwart: Das machen Museen eigentlich schon immer. Doch wie stellt es sich im 21. Jahrhundert dar, mitten in der Corona-Krise? Der 31. Österreichische Museumstag in Krems widmet sich unter anderem diesem Thema. morgen sprach schon vorweg mit einigen Museumsleuten, die in der Session „Corporate Object – Neue Sammlungen von Museen“ referieren werden. Sie zeigten uns Objekte, die für sie besondere Bedeutung haben und erzählten uns mehr darüber, auf welche Weise sie das zeitgenössische Geschehen dokumentieren, welche Dinge sich gar nicht dafür eignen und warum Sporttaschen und Transparente wichtig sein können.

Andreas Rudigier, Vorarlberg Museum, Direktor

Ich habe viele Lieblingsobjekte, also nehme ich jenes, das aus meiner Sicht gerade am meisten diskutiert wird: Es handelt sich um ein Werk des Tiroler Fotografen Lois Hechenblaikner, das eine Szene aus Ischgl zeigt. Wir haben das Bild 2014 erworben. Es hat nun eine ungeheure Aktualität bekommen: Hechenblaikner publizierte sein Ischgl-Buch und setzte „unser“ Foto auf das Titelbild. Ischgl ist als Corona-Hotspot in aller Munde, und das Buch ging sprichwörtlich durch die Decke. Es wurde in allen bekannten deutschsprachigen Medien besprochen. 

Dazu kam noch ein zweiter Aspekt: Das Bild zeigt einen Berg geleerter Bierkisten der Firma Mohrenbräu, die ihren Sitz in Dornbirn in Vorarlberg hat. In Folge der „Black Lives Matter“-Bewegung sah sich das Unternehmen einer ausgewachsenen Rassismusdiskussion ausgesetzt. Das Bild Lois Hechenblaikners hat also gleich zweifach eine enorme Aktualität erfahren. Es repräsentiert damit das vielleicht aktuellste Sammlungsobjekt des Vorarlberg Museums im Jahr 2020.

Was das Sammeln der Gegenwart während der Krise betrifft, gibt es viele Herausforderungen: Das Interesse an den Objekten und das Wissen darüber sind zum Beispiel notwendig. Außerdem müssen wir die Geschichte zu einem Objekt mitsammeln. Auch eine materiell völlig wertlose alte Sporttasche kann wichtig werden, wenn sie eine gute Geschichte erzählt. Wie die des in den 1970er-Jahren nach Vorarlberg zugewanderten Radomir Petrovic mit einem Werbeaufdruck der Sparkassenbank. Auf der Tasche stehen sein Name und sein Verein: Rote(r) Stern Bregenz. Petrovic spielte jahrelang in der sogenannten Jugo-Liga, die sich unter den Zuwanderern in Vorarlberg etabliert hatte. Sie löste sich just in jenem Moment auf, als im ehemaligen Jugoslawien der Krieg losging. 

Dieses Bild ist enorm aktuell.

Schwierig zu sammeln sind Erzeugnisse der zeitgenössischen Kunst, die aufgrund ihrer Materialität nicht auf dauernde Erhaltung ausgerichtet sind. Die Gegenwart wird besonders durch neue Medien geprägt, und Museen sind letztlich wie die Gesellschaft, von der sie getragen werden. Erst wenn der Museumsbegriff in den Köpfen der Menschen ein positiver besetztes Bild bekommt, werden die Museen jene Funktion einnehmen können, die sie so gerne hätten, nämlich: mehr Begegnungs- denn Erinnerungsort zu sein und von der reinen Dokumentation vergangener Zeiten ausgehend in Richtung kritischer Beobachtung gegenwärtiger Gesellschaft denken zu dürfen – mit der Chance, Einfluss auf diese Entwicklungen nehmen zu können. ● ○

Miro Kuzmanovic

Martina Griesser-Stermscheg, Technisches Museum Wien, Sammlungsleiterin

Ich konnte die Sehnsucht der Künstlerin nachempfinden, vielleicht habe ich Julia Libisellers Werk „Mein Krisenlebensentwurf“ deswegen als Lieblingsobjekt gewählt. Sie hat während des Lockdowns ein „Tiny House“ aus Material, das sie zu Hause hatte, gebaut. Die Räder bestehen aus Knöpfen, die Herdplatten sind 5-Cent-Stücke. Dieses Raus-Wollen, ins Grüne, weg aus der Stadt: Das hatte ich auch. Als in Wien selbst die Parks und die Spielplätze gesperrt waren und man mit fremder Nummerntafel in Gegenden, wo man in der Regel als zahlender Gast herzlich willkommen ist, gesagt bekam: „Bleibt, wo ihr seid!“ – da begann mir das nomadische Lebensmodell, das es einem erlaubt, im Grünen umherzuziehen, sehr zu gefallen.

Das nomadische Modell gefällt mir.

Als Kuratorin empfand ich die Corona-Zeit spannend. Es war unglaublich leicht, Gegenwart zu sammeln, weil alles so hochaktuell war: Mund-Nasen-Schutzmasken, Fieberthermometer, Antikörpertests. Plötzlich waren ganz banale Dinge wichtige Bedeutungsträger. Auch die Durchsagen in Zügen und öffentlichen Verkehrsmitteln archivierten wir. Viele Leute waren zu Hause, nutzten die Zeit zum Aussortieren, und Dinge, die sie weder behalten noch wegwerfen mochten, fanden ihren Weg ins Museum. Was nicht ganz einfach war, weil auch die Kolleginnen und Kollegen in der Objektannahme in Kurzarbeit waren. Wir haben deswegen das „10-Megabyte-Museum“ ins Leben gerufen und Menschen dazu aufgefordert, mit uns eine neue, digitale Sammlung zu begründen, die erste dieser Art in Österreich. Die Idee hinter diesem Projekt ist es, zukünftigen Generationen ein digitales Erbe zu hinterlassen, eine digitale Flaschenpost in die Zukunft zu schicken. Und die Resonanz auf diesen Aufruf war unglaublich positiv. Trotzdem kamen wir in manchen Bereichen an unsere Grenzen. Gewisse Dinge kannst du nicht sammeln. Die Stimmung zum Beispiel, diese ungewöhnliche Stille im Bus, weil Atemschutzmasken Kommunikationsbarrieren sind. Oder diesen merkwürdigen Moment vor jeder Begrüßung – plötzlich wissen wir nicht mehr, wie nahe wir unserem Gegenüber kommen können: „Bist du noch auf Distanz?“ Das Sammeln der Gegenwart war für Museen schon immer wichtig. Durch Corona hat das Thema richtig Fuß gefasst: Das Thema Partizipation ist bei den Leuten angekommen, auch untereinander vernetzen sich die Museen jetzt besser als zuvor. Sogar die Medienresonanz war viel größer als vorher. Ich hoffe, das wird so bleiben. ● ○

Clemens Schmiedbauer

Otto Hochreiter, GrazMuseum, Direktor

Museen haben schon immer Ideen und gesellschaftliche Werte unterstützt und produziert. In einer Krise, von der wir nicht sagen können, ob sie eine Katastrophe ist, wäre eine solche Werteorientierung ein wichtiges Überlebensmittel unserer aktuellen gesellschaftlichen und politischen Zivilisiertheit. Museen könnten also aufgrund der ihnen zugeschriebenen Glaubwürdigkeit zu wichtigen Kraftwerken nachhaltiger Zivilisiertheit werden. Per se wird es kaum ungeeignete Dinge für das Sammeln der Gegenwart geben, es sei denn, es sind Lebensmittel. Das wird immer eine Frage des Kontexts sein. Und eine Frage des Publikums. Ramsch wären Objekte, die austauschbare, industrielle Produkte sind, die – in unserem Fall – keinen Bezug zur Stadt haben; wertvoll wären sie, wenn sie Hinweise geben auf Schicksale, Lebensumstände und Ereignisse, die erzählenswert sind. 

Für unsere Corona-Sondersammlung wurde ein riesiges Transparent abgegeben, mit dem Sturm-Graz-Fans das Krankenhauspersonal des Landeskrankenhauses als neue Heldinnen feiern. Es hing über einer Ausfallstraße der Stadt und berührte viele Grazerinnen und Grazer sehr.

Ein wichtiges Kriterium für das Sammeln von Gegenwart ist, ob es zu vielleicht banalen Objekten eine glaubwürdige Geschichte gibt. Ein weiteres ist die Signifikanz: das Sprechende des Objekts oder Mediums. Und die Einschätzung aufgrund unserer Erfahrung, ob das Objekt in Zukunft als relevantes Zeugnis der Vergangenheit, die unsere Gegenwart ist, angesehen werden wird. Und: Objekte haben ihr eigenes Recht in ihrem bedeutungslosen Zeitgestus, den sie auch in sich tragen. Sie sprechen für sich selbst in der eigentümlichen Sprache der Dinge. Was heißt das dann aber für die Eingangskriterien der Sammlungen? Kommt dann das Kriterium der enigmatischen Faszination hinzu?

Wir haben nicht gewartet.

Wenn man viele Kinder hat, kann keines ein Lieblingskind sein. Ein wenig ist das auch im Museum so. Es gibt die Pflicht des Museumsdirektors, alle Objekte gleich „lieb“ zu haben. Aber gut repräsentiert unser Gegenwart-Sammeln eine Fotografie von Franziska Schurig. Wir haben sie mit einem sehr engen Briefing beauftragt, von jeder der 426 Haltestellen in Graz ein Foto zu machen, um die Anmutung der Stadt im Herbst 2017 zu dokumentieren. Wir warteten in diesem Fall also nicht, dass uns etwas Signifikantes für die Sammlung angeboten wird, sondern waren selbst Auftraggeber. 

Grundsätzlich gilt: Ob ein Museum Grab oder Schatz ist, ob es spricht oder schweigt, hängt einzig von den Besucherinnen und Besuchern ab. ● ○

Philipp Podesser

Katrin Vohland
Rita Newman
Katrin Vohland

Vohland

"Menschen wollen sich stärker beteiligen"


Katrin Vohland, die neue Direktorin des Wiener Naturhistorischen Museums und eine Hauptreferentin am 31. Österreichischen Museumstag in Krems, sprach mit morgen über die Wirksamkeit konkreter Zahlen, die Mühsal von Zoom-Meetings und Citizen Science – die Beteiligung von Laien an wissenschaftlicher Forschung, jenes Gebiet, auf dem sie federführend ist.

morgen: In den vergangenen Monaten, seit die Corona-Krise uns in Atem hält, traten vermehrt Expertinnen und Experten aus den Naturwissenschaften an die Öffentlichkeit. Wurde nun sichtbarer, welche Bedeutung diese für die Gesellschaft haben?

Katrin Vohland

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Die Forschung insgesamt wurde sichtbarer, in erster Linie die Naturwissenschaften – schließlich handelt es sich bei SARS-CoV-2 um ein Virus, das vom Tier auf den Menschen übersprang. Aber es kamen auch die Epidemiologie, die Bildungs-, die Sozialwissenschaften und viele andere Disziplinen zu Wort, um über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu sprechen. Auch die Prozesse, die hinter der Forschung stecken, wurden sichtbarer. Man bekam mit, dass sich Erkenntnisse und Empfehlungen weiterentwickeln und konnte hautnah verfolgen, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Man sah, wie mühsam der Fortschritt war, aber auch, wie viele Forscherinnen weltweit daran beteiligt waren und wie intensiv der Austausch war.

Seit der Corona-Krise hat sich das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft gewandelt; die Wissenschaft wird offenbar ernster genommen. Wird sich das beim Klimawandel fortsetzen? Oder ist das ein zu frommer Wunsch?

Vohland

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Der Dialog zwischen Klimaforschung und Politik ist deutlich älter als die Corona-Krise. Der Politik ist bekannt, welche Folgen der Einsatz fossiler Brennstoffe hat. Aber der Klimawandel hat eine andere Zeitdimension als Corona. Daher ist dieser schwer zu greifen. Die Menschen im globalen Süden sind viel stärker von den Auswirkungen betroffen, auch wenn wir sie im alpinen Bereich ebenfalls spüren. Zudem ist das Klimasystem unglaublich komplex. Verbreitungswege eines Virus einzudämmen und Medikamente oder Impfungen dagegen zu entwickeln: Das ist einfacher, als den Klimawandel aufzuhalten. Da geht es um weitaus längere Zeiträume; außerdem agieren einzelne Länder völlig unterschiedlich. Der Physiker und Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, der das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung gründete, setzte in einem schlauen Schachzug das Zwei-Grad-Ziel in die Welt. Dieses lässt sich mit sehr konkreten CO2-Verbrauchswerten verbinden.

Ich schaue mir lieber reale Objekte an.

Braucht es mehr konkrete Zahlen, um klimapolitische Maßnahmen zu forcieren?

Vohland

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Offenbar. Damit kann die Politik leichter umgehen als mit qualitativen Angaben. Aber es braucht auch das Empfinden, dass man selbst betroffen ist. 

Sie traten Ihr Amt am 1. Juni an, als die meisten Museen nach dem Lockdown gerade wieder aufsperrten. Wie nahmen Sie deren Aktivitäten in der Schließzeit wahr, vor allem in Hinblick auf digitale Strategien? Haben Sie für das Naturhistorische Museum etwas daraus gelernt?

Vohland

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Das Naturhistorische Museum stellte jeden Tag Social-Media- und Blogbeiträge online. Videos wurden mit der Wissenschaftsvermittlung im Haus entwickelt. Da gab es teilweise experimentelle Angebote – was man sonst in Führungen durch das Haus erzählt hat, verlegte man nun nach draußen oder in die vier Wände des Publikums, unter #nhmwienfromhome. Der Lockdown machte deutlich, dass man stärker in die digitale Infrastruktur investieren und anders mit Homeoffice umgehen muss. Wir hatten Zoom-Meetings, die machen mir nicht wirklich Spaß, da fehlt mir die Kreativität. Ich sah auch virtuelle Ausstellungen von anderen Museen an, da gab es teilweise spannende Sachen. Doch ich schaue mir lieber reale Objekte an.

Da geht es vielen ähnlich. Wird die Digitalisierung vielleicht überschätzt?

Vohland

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So pauschal kann man das nicht sagen. Das Feld ist ja weit. Wenn ich über Digitalisierung im Kontext der Sammlung spreche, habe ich ja auch die wissenschaftliche Zielgruppe im Blick. Die Sammlungen hier sind von internationaler Bedeutung. Sie zu digitalisieren bedeutet, überhaupt erst mal zu wissen, was vorhanden ist. Darüber hinaus werden Objekte in 3-D eingescannt und Forschungsergebnisse digitalisiert. Das ist für den internationalen Austausch relevant. Das kann dann weitergehen. Ich bin eine große Anhängerin von Open Access: Forschungen, die aus Steuern finanziert sind, sollen der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen – und das global: Unsere Publikationen sollen auch Interessierte beispielsweise in Lateinamerika oder Afrika lesen können. Open Science heißt darüber hinaus, dass nicht nur Endergebnisse, sondern auch Forschungsprozesse offener gestaltet werden. Wobei Vorsicht angebracht ist: Wer etwa gerade erst ein Doktorat macht, muss nicht sofort alles publizieren. Es gibt auch andere Dinge, die nicht unbedingt in der Öffentlichkeit sein sollten: zum Beispiel die Information, wo genau sich der letzte geschützte Ort einer Orchidee befindet. Darüber hinaus müssen wir uns über Lizenzen Gedanken machen: Wenn wir ein schönes Objekt oder Bild anbieten, müssen wir die Quelle nennen und definieren, ob es kommerziell genutzt werden darf oder nicht. Wir wollen nicht nur Publikationen online stellen, sondern auch Datensätze. Das kann eine Anerkennung für ehrenamtliche Forscherinnen und Forscher sein, deren Leistung auf diese Weise sichtbar wird.

Sie sprechen damit Citizen Science an, also die Forschung mithilfe von Laien – ein Gebiet, auf dem Sie seit Langem federführend tätig sind. Nun gibt es Citizen Science ja schon lange; eigentlich schon länger als die akademischen Wissenschaften. Die jüngeren technologischen Entwicklungen scheinen ihr aber einen Boom beschert zu haben. Können Sie diesen Eindruck bestätigen?

Vohland

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Die technologische Entwicklung spielt sicher eine wichtige Rolle. Digitale Medien helfen enorm bei der Kommunikation, und sie erleichtern die Qualitätskontrolle in vielen Bereichen. Wenn zum Beispiel jemand eine Tier- oder Pflanzenart in eine Datenbank stellt, dann entspinnen sich Diskussionen: Handelt es sich tatsächlich um die angegebene Spezies? Lebt sie wirklich an diesem Ort? Oder könnte sie eingewandert sein? Am Smartphone gibt es Apps, um Vogelstimmen zu hören, Sterne zu bestimmen oder Skripten zu digitalisieren – all das läuft auch unter dem Begriff Crowdsourcing. Die Technologie hat viel zum verstärkten Interesse an Citizen Science beigetragen, ist aber nur ein Grund dafür. Was die Entwicklung ebenfalls befördert, ist, dass Menschen sich stärker an der Wissenschaft beteiligen wollen. 

Welche Bedeutung hat das Feld bisher im Naturhistorischen Museum? 

Vohland

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Es gibt eine kleine Gruppe an Personen, die schon vor mehreren Jahren eine Citizen-Science-Strategie für das Haus geschrieben haben. Mit dem Deck 50 eröffnen wir im November einen Bereich, wo wir die Betreuung Interessierter intensivieren wollen. Das ist mit viel Kommunikationsleistung verbunden. 

Mancherorts ist zu lesen, professionelle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler würden auf Augenhöhe mit Citizen Scientists arbeiten. Kann das wirklich funktionieren?

Vohland

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Es kann nicht überall funktionieren. Auf der einen Seite gibt es Expertinnen und Experten, zum Beispiel in der Taxonomie, deren Leistungen den von angestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um nichts nachstehen. Aber viele Laien fordern das auch gar nicht ein, sondern wollen in ihrer Freizeit etwas Schönes machen, spannende Menschen treffen und freuen sich, wenn sie zur Forschung beitragen können. Natürlich gibt es bei der wissenschaftlichen Expertise ein Gefälle, vor allem, was die Zugänglichkeit betrifft – zu Literatur und finanziellen Ressourcen. Das wird manchmal unterschlagen. Theoretisch können sich dennoch alle beteiligen, wobei das zu relativieren ist: Zumeist handelt es sich um Menschen mit akademischem Hintergrund, die genügend Zeit für ehrenamtliche Forschung haben. Mit dem Deck 50 möchte ich auch den Menschen Zugang zu Forschung und Wissenschaft ermöglichen, die diesen nicht von Haus aus mitbringen. Da muss man andere Angebote machen und stärker auf Menschen zugehen – auch zum Beispiel über Kindergärten, Schulen und Horte. 

Welche konkreten Pläne haben Sie für das Deck 50?

Vohland

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Wir wollen Forschungsprojekte öffentlich diskutieren; dafür wird es feste Gruppen geben, die wir betreuen – vor allem Schulen. Neben den Laboren, die diese nützen können, gibt es ein Science-Theater sowie einen Bereich mit offeneren Angeboten, die stark im digitalen Raum verankert sind. Da kann das Publikum virtuell Dinos füttern – wie genau das geht, darauf bin ich schon gespannt. Und über den Wolf debattieren: Wie geht man damit um, dass dessen natürliches Vorkommen in unseren Ländern einerseits wünschenswert ist, es andererseits deshalb zu Konflikten kommt, mit der Bevölkerung, mit Schäfern? Die Statements des Publikums werden dann zurückgespielt zur Wolfsforschung.

Citizen Science muss auch organisiert und begleitet werden. Müssen wissenschaftliche Institutionen und ihr Personal umdenken? Wie werden Ressourcen dafür frei?

Vohland

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Man muss unterschiedliche Ebenen angehen. Im Naturhistorischen Museum sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Forschung, im Ausstellungsgeschehen und in der Öffentlichkeitsarbeit tätig. Dieser Dreiklang hier ist etwas Außergewöhnliches. Wir können die Wertschätzung der Citizen Science erhöhen, indem wir diese im politischen Evaluierungsprozess stärken. Dennoch: Die Betreuung von Datenbanken, die Entwicklung von Apps und Infrastruktur müssen wir finanzieren – da werden wir sicher auch Drittmittel einwerben müssen. 

Das Publikum kann virtuell Dinos füttern.

Sie sind erst seit Kurzem in Österreich. Sind Ihnen hier bereits bestimmte Museen aufgefallen, die sich im Bereich der Citizen Science hervorgetan haben? 

Vohland

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Ganz großartig ist die Universität für Bodenkultur. Da gibt es eine Citizen-Science-Plattform, die aus Eigeninitiative aufgebaut wurde und mit der wir in Deutschland eng zusammenarbeiteten. Bemerkenswert war auch das Projekt „Sparkling Science“, finanziert vom Forschungsministerium, da konnten sich Schulen beteiligen. Das läuft zwar aktuell nicht mehr, aber da war Österreich Vorreiter. Mit einzelnen Museen habe ich mich noch nicht im Detail befasst. Aber gerade kleine Museen basieren sehr stark auf ehrenamtlicher Arbeit. Egal, wie groß oder klein ein Museum ist: Diejenigen, die es betreiben, müssen sich wissenschaftlich mit der Präsentation von Objekten oder der Recherche von Quellen beschäftigen. Das würde man vielleicht nicht als Citizen Science bezeichnen, aber eigentlich ist es das. In diesem Punkt hat Österreich ein reiches Angebot. ● ○

Digitales Sammlungsmanagement

Weg von den Datensilos!


In musealen Online-Sammlungen sind Tausende Objekte abrufbar. Was bringt das dem breiten Publikum? Wie begegnen Museen der Angst vor Info-Überforderung? Die Landessammlungen Niederösterreich und das Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften an der Donau-Universität Krems gehen neue Wege.

Die Wunderwaffe steckt in einem kleinen Lederetui. Darin verbergen sich Spielkarten und – als Herzstück – eine getrocknete Spinne. Seit dem Mittelalter sagte man diesen Tieren nach, dass sie gegen Krankheiten schützten. Das Spinnenamulett, das sich heute im Museum Niederösterreich befindet, sollte vor Fieber bewahren. Auf dem Sammlungskärtchen vermerkte jemand mit Feder und Tinte: „Wurde um den Hals getragen.“ Der Anhänger ist mit 1870 bis 1890 datiert. Wer sich wohl davon Schutz erhoffte?

Die globale Corona-Pandemie lässt den Aberglauben vergangener Epochen in einem neuen Licht erscheinen. Heimische Museen besitzen viel Anschauliches zum historischen Umgang mit Seuchen, aber die Häuser mussten monatelang geschlossen halten. Dafür zählt das lederne „Amulett gegen Fieber“ aus St. Pölten nun zu jenen 30.000 Objekten, die seit April über die Onlinedatenbank der Landessammlungen Niederösterreich abrufbar sind. Das ist zwar nur ein Bruchteil der über sechs Millionen Objekte in Landesbesitz, aber die digitale Wunderkammer aus den Bereichen Natur, Archäologie, Kunst und Kulturgeschichte wird in Zukunft noch wachsen.

„Die Landessammlungen wollten mit diesem ersten Bestand unbedingt online gehen, solange die Leute noch zu Hause bleiben mussten“, erzählt Isabella Frick von der Donau-Universität Krems. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften erlebte die Corona-Krise als Beschleuniger in Sachen Digitalisierung. So wurde nach der Schließung der Ausstellungshäuser im Eilverfahren die Online-Datenbank aktiviert. Vorarbeiten für diesen Schritt wurden zwar bereits durch eine Digitalisierungsoffensive seit 2018 geleistet, aber der Start des Webauftritts war ursprünglich erst für Herbst 2020 geplant. Seit dem Frühjahr bieten beispielsweise Podcasts, die unter dem Titel „CollectCasts“ hinter die Kulissen blicken lassen, inhaltliche Auseinandersetzung.

Nun können erstmals über ganz Niederösterreich verteilte Museumsobjekte via Suchleiste abgerufen werden. Wer etwa den Begriff „Maus“ eingibt, stößt auf einen antiken römischen Goldring mit einem eingravierten Nagetier, ein aufziehbares Blechspielzeug aus den 1950er-Jahren sowie eine politische Karikatur des Zeichners Erich Sokol. Die Online-Datenbank liefert auch Informationen zu Objekten, die auf den ersten Blick unspektakulär wirken. So etwa zu jenem Kinderwagen, der während der Flüchtlingskrise 2015 an der Grenze in Nickelsdorf zurückgelassen wurde und den heute das St. Pöltner Haus der Geschichte in seiner Dauerausstellung präsentiert. Der Buggy ist als „Sammlungskonvolut“ registriert, da er unter anderem ein serbisches Busticket, ein Milchpackerl aus Kroatien und ungarische Zigaretten enthielt. An der Herkunft dieser Dinge lässt sich die Fluchtroute ablesen.

Entflechtung

Der Medienwissenschaftler Dennis Niewerth analysiert, dass Museumsdinge im virtuellen Raum einen Zuwachs an Bedeutungsebenen erleben. „Durch die Digitalisierung kommt es zu einem Wuchern der Objekte“, erläutert der Mitarbeiter am Deutschen Schifffahrtsmuseum im Interview mit morgen. Während Museen ihre Exponate immer in Beziehungen zu anderen Dingen setzen – sei es durch Klassifikationen oder räumliche Anordnungen – können diese als sogenannte Digitalisate aus solchen Verflechtungen befreit werden. Als Beispiel dafür nennt Niewerth eine altgriechische Vase: Ein solches Artefakt kann je nach Kontext als Objekt der Kunst-, Technik-, Alltags- oder Wirtschaftsgeschichte, Kulturhistorie oder der Mythologie erscheinen. Im Netz lösen sich die Grenzen der Schubladen auf. „Es findet eine Verlängerung der Objekte in Diskurs- und Wirkungsräume statt, in die das materielle Objekt nicht gelangt“, schildert Niewerth den Gewinn.  

In Wahrheit war das Museum schon immer virtuell und wurde nicht erst durch die neuen Technologien dazu, so Niewerths zentrale These. Nur hätten wir diese Qualität lange nicht erkannt. Durch die Schließungen wurde das Museum als Möglichkeitsraum wieder greifbarer. Für die Aktualität der Debatte spricht auch, dass noch nie so viele Artikel und Zeitungsbeiträge über die Digitalisierung in Museen erschienen sind wie zuletzt. 

Die Institutionen selbst zerbrechen sich freilich schon viel länger den Kopf, in welche technologischen Erneuerungen sie für ihr Publikum investieren sollen. Eine gut betreute Website und eine Datenbank des eigenen Bestandes mögen als Rückgrat musealer Online-Präsenz erscheinen, sind aber immer noch keine Selbstverständlichkeit. Bei den Datensätzen gilt es, internationale Richtlinien zu befolgen, etwa was die Qualität der Bilder anbelangt. Anlässlich des Webauftritts der Landessammlungen mussten zum Beispiel 400 Objekte der Spielzeugsammlung neu fotografiert werden. Wie die 2019 vom Museumsbund Österreich veröffentlichte Studie „Das Museum im digitalen Raum“ belegt, hat hierzulande erst jedes fünfte Museum seine Sammlung ganz oder zumindest teilweise online gestellt. Als Hindernisse gelten personelle und finanzielle Ressourcen, aber auch Copyright-Fragen. 

Mikroskopische Details

Gab es zu Beginn von Online-Sammlungen noch häufig Skepsis, ob sich der Aufwand lohne, so ist der Nutzen für die internationale scientific community heute unbestritten. Aber wie steht es um das nicht-professionelle Publikum, dem ja der Bildungsauftrag öffentlicher Institutionen wesentlich gilt? Was fangen Nutzerinnen und Nutzer ohne spezifisches Interesse oder Vorkenntnisse mit einer Überfülle von Datensätzen an? Niewerth weist in seinem 2018 erschienenen Buch „Dinge – Nutzer – Netz: Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen“ auf den Begriff „Information Anxiety“ hin: die Angst vor Info-Überforderung, die bereits Ende der 1980er-Jahre konstatiert wurde; die Kluft zwischen Daten und Wissen ist seit damals freilich noch viel gewaltiger geworden.

Eva Mayr und Florian Windhager von der Donau-Universität Krems haben das Motto „Weg von den Datensilos!“ auf ihre Fahnen geschrieben. Am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften entwickeln sie neue Visualisierungsstrategien, mit denen Kollektionen fassbar werden, so auch für die Landessammlungen Niederösterreich. „Wer vor Tausenden digitalen Objekten steht, kann diese Akkumulation kaum wertschätzen oder genießen“, beschreibt Windhager das Problem. „Wie soll man sich in so eine Menge hineinbewegen? Allzu oft fehlt virtuell die Möglichkeit, wie in einem Museum loszuflanieren oder zu spazieren.“

Mittlerweile existieren jedoch viele spannende Wege, Sammlungen als Ganzes bildlich zu erschließen. An die Stelle von Listen oder Rastern treten dabei etwa dynamische Wolken aus Punkten, in die man per Klick eintauchen kann. Punkte auf einem Zeitstrahl demonstrieren, aus welcher Epoche die meisten Objekte einer Kollektion stammen oder wann sie in die Sammlungen gelangten. Mit Karten lässt sich wiederum die geografische Herkunft anzeigen, während Themen sich in Clustern gruppieren. Sogar unsichtbare Verknüpfungen, die nur Expertinnen und Experten vertraut sind, lassen sich als relationale Netzwerke zeigen: So erschließt sich zum Beispiel, wie Kunstschaffende und ihre Werke einander beeinflussten.

Dieser Blick aus der Ferne wird als distant reading bezeichnet. Das Gesamtbild entsteht dabei durch Abrücken. Nicht mehr nur die Spitze des Eisbergs, also Hauptwerke und Kanon, sondern der volle Bestand wird sichtbar. Ein close reading bedeutet Hineinzoomen. Die Bandbreite reicht hier vom Isolieren einzelner Datensätze bis zum Eintauchen in mikroskopisch kleine Details von Gemälden, wie es etwa die Onlineplattform Google Arts & Culture seit 2011 anbietet. 

„Visualisierungsstrategien sind in anderen Feldern bereits lange verbreitet, aber im Kunst- und Kulturbereich setzen sie sich erst seit Kurzem durch“, bemerkt Windhager. Diese Zögerlichkeit verwundert umso mehr, als viele Applikationen für distant reading offen im Netz verfügbar sind und kostenlos für die eigene Sammlung genutzt werden können. 

Es kommt zu einem Wuchern der Objekte.

Fliege oder Spinne?

Um ein Big Picture der Landessammlungen Niederösterreich zu gewinnen, hat Windhagers Team Workshops mit Fachleuten der verschiedenen Sammlungsabteilungen organisiert. „Wir haben dabei entdeckt, dass die Sammlungen ohnehin über eine exzellente Ordnungsstruktur verfügen.“ Letztlich fiel die Entscheidung, dass ein Baum zukünftig die historisch gewachsenen Bestände veranschaulichen wird. Die Userinnen und User blicken bei dieser Visualisierung von oben auf die Äste und Zweige der Sammlungsgebiete Natur, Archäologie, Kunst und Kulturgeschichte. Mit der Maus können sie entlang der Gabelungen navigieren, per Klick tauchen die Objekte samt Infos auf. „In Wahrheit ist es nicht selbstverständlich, dass Leute gerne Kunst auf dem Bildschirm betrachten“, streicht Windhager hervor. Benutzerfreundlichkeit spielt daher eine fundamentale Rolle. Um diese zu gewährleisten, engagiert Windhager Testpersonen: „Wir interessieren uns sehr für das, was in den Köpfen passiert, wenn jemand eine Visualisierung betrachtet und bedient.“ Dazu sprechen Userinnen und User laut aus, welche Eindrücke sie während der Benützung von Prototypen haben. Zur Evaluierung dient auch Eye-Tracking, also ein Nachverfolgen der Augenbewegungen, oder das klassische Interview. Ist die Visualisierung einmal implementiert, lässt sich der Erfolg einer Applikation vor allem durch Klickzahlen und Verweildauer messen.

Für die Zukunft sieht Windhager spielerische Ansätze – Stichwort Gamificaton – und erzählerische Formate als besonders produktiv. Für eine jüngere Generation wurde jetzt schon eine Art Windrad entwickelt, über dessen bunte Segmente entlang der Landesammlungen gesurft werden kann. Das Team der Landessammlungen setzte zudem die „CollectCasts“ um, die tiefere Einblicke bieten und Hintergründe erklären: So werfen sie zum Beispiel ein Licht auf die normalerweise unsichtbare Arbeit in den Restaurierwerkstätten.

Für Niewerth hat die Stunde des digital curator geschlagen, der neben einer klassischen kuratorischen Ausbildung auch eine hohe Medienkompetenz mitbringt. „Das müssen Leute sein, die sehr breit und sehr selbstverständlich mit digitalen Medien interagieren und gut im Blick haben, was mit Computern im Ausstellungsraum und online alles möglich ist“, sagt er. Das Schifffahrtsmuseum, für das er arbeitet, hat gerade so eine Stelle ausgeschrieben. Freilich muss sich auch das restliche Museumspersonal mit den virtuellen Chancen auseinandersetzen. Wer will in den Netzen der Technologie schon die Fliege und nicht die Spinne sein? ● ○