Kolumne

App für Umarmungen


Wochenlang saßen wir brav zu Hause, betrieben Homeoffice, unterrichteten unsere Kinder, telefonierten, whatsappten, skypten, bespaßten uns mit lustigen Cartoons und Witzen aus dem Internet, aber auch mit Online-Theatervorstellungen, -Lesungen, -Konzerten und -Ausstellungen, fühlten uns trotz geschlossener Grenzen mit der ganzen Welt verbunden, teilten dieselben Ängste, polemisierten darüber, was noch kommen könnte – Impfserum oder ein wirksames Medikament –, bestellten im Supermarkt zur Sicherheit den nächsten Einkauf. In unzähligen Stunden am Telefon und Computer erfuhren wir, wie es der Familie und den Freunden jenseits unseres kleinen Universums geht, sahen durch Bildschirme in ihre Wohnzimmer, übten uns in Fremdsprachen, analysierten die Lage in dem jeweiligen Land, wünschten allen nur das Beste. Manchmal wunderten wir uns, wie locker und verantwortungslos oder streng und totalitär es in dem einen oder anderen Land zugeht und freuten uns über die sinkenden Fallzahlen im eigenen Land. 

Elisabeth aus Stockholm postet Bilder ihrer beiden ältesten Enkel bei der Maturafeier. Auf dem Video vor der Schule tanzen die jungen Schwedinnen und Schweden ausgelassen, die körperliche Nähe spielt dabei keine große Rolle. Meine New Yorker Freundin Melanie engagiert sich für die Schwächsten der Gesellschaft, propagiert das Tragen der Masken in der Öffentlichkeit und prangert die unmenschliche Politik des Donald Trump an. Susanne aus New Mexico ist trotz der angespannten Lage rundum glücklich, vermisst nur ihre Studierenden, die sie an der Universität in Deutsch unterrichtet. Jirka aus Prag prostet mir im Andenken an gesellige Stunden im Bierlokal U Fleků mit einem dunklen Bier zu. Eva in Zürich organisiert an ihrem Geburtstag ein virtuelles Anstoßen und schart eine internationale Gruppe um sich. Mark aus Glasgow, ein praktischer Arzt, ist safe, Julie aus Paris tanzt mit ihrem Mann Tango im Wohnzimmer, um in Bewegung zu bleiben, Paolo aus Mestre schickt Gedichte, Georg und Miriam sind, zwar verspätet, aber gesund aus ihrem Winterdomizil in Südspanien zurückgekehrt. 

Und dann ist da noch Jana, eine slowakische Pflegerin, die sich nicht traute, in ihre Heimat zu fahren. Die Grenze zur Slowakei war zwar offen, die Rückkehrer, die man plötzlich Repatrianten nannte, mussten aber für zwei Wochen in die staatliche Quarantäne gehen. „Da brauche ich gar nicht von hier wegzufahren“, sagt Jana, die sich bei der 24-Stunden-Pflege unseres Nachbarn im Zweiwochenrhythmus mit Marta abwechselt. „Zwei Wochen hier und zwei Wochen in der Quarantäne, wofür soll das gut sein?“

Jana blieb drei Monate in Österreich. In dieser Zeit starb ihr Vater, erlitt ihre Tochter eine Fehlgeburt, fiel ihr zu allem Übel auch noch ein Vorderzahn aus. Eine Ausnahme für die Einreise ins eigene Land wurde ihr nicht bewilligt. „Zwei Freundinnen von mir waren in der staatlichen Quarantäne. Was glaubst du, was für Horrorgeschichten sie von überfüllten Bussen und schmutzigen Zimmern, die sie zu zweit, zu dritt oder sogar zu viert bewohnt haben, erzählt haben?“, sagte sie mir, als ich sie einmal mit ihrem Schützling beim Spaziergang auf der Straße traf. „Und Marta ruft mich jeden zweiten Tag an und fordert mich auf, ich soll endlich zurückfahren, weil sie auch arbeiten, aber vor allem verdienen möchte. Ihr Mann ist arbeitslos und sie die Alleinverdienerin in der Familie. In ihren Augen bin ich diejenige, die ihr den Arbeitsplatz streitig macht. Alle machen nur Druck, und wie es mir dabei geht, fragt keiner. Ich bin jetzt nach zwölf Wochen so übermüdet, dass ich kaum noch auf den Beinen stehen kann. Und schlafen kann ich auch nicht mehr. Wenn es so weitergeht, werde ich noch einen Psychiater brauchen.“

Man muss immer damit rechnen, dass die Menschen, die man trifft, potenzielle Träger des tödlichen Coronavirus sind. Eine Wunderwaffe dagegen hat bisher niemand gefunden. Ob ein wirksames Medikament oder eine Impfung heuer, nächstes Jahr oder erst in vielen Jahren entwickelt wird, steht noch in den Sternen. Bis dahin müssen wir uns gedulden, Mund-Nasen-Schutz tragen, Abstand halten, stets an einen Babyelefanten denken. 

Wieder einmal traf ich Jana auf der Straße, diesmal ging sie einkaufen. Was mir sofort auffiel, war ihre blasse Haut und dunkle Ringe unter den Augen. Trotzdem lächelte sie. „Es sieht so aus, als ob die staatliche Quarantäne bald abgeschafft werden würde“, strahlte sie mich an. Und tatsächlich.
Aufgrund der Proteste der Bevölkerung musste die staatliche Quarantäne einer „Smart App“, die nicht so smart war, wie sie vorgab zu sein, weichen. Gleich am nächsten Tag fuhr Jana nach Hause, und die zweite Pflegerin kam in unser Dorf. 

Marta erzählte von strengen Vorkehrungen in ihrem Land, der Slowakei, das nur sehr wenige Infizierte hatte, aber vor allem von ihrer Angst, die Grenzbalken könnten wieder fallen und sie müsste länger als geplant bleiben. „Nicht nach Hause fahren zu können, wäre für mich das Schlimmste“, sagte sie. „Meine Töchter sind noch klein, und die Eltern brauchen mich auch.“ Daraufhin zog sie ihr Handy aus der Tasche und zeigte mir einige Fotos von ihren achtjährigen Zwillingen. Noch bevor sie das Handy abschaltete, hauchte sie Küsse auf das Display. Ihre Augen bekamen dabei einen besonderen Glanz.  

Zum Glück löste sich Martas Sorge in Luft auf. Mit der Zeit und unter wirksamen Maßnahmen der europäischen Regierungen fielen die Fallzahlen, manche Apps funktionierten, manche stürzten immer wieder ab, aber das Leben kehrte auf die Straßen zurück. Die Geschäfte öffneten, die Kultur übersiedelte ins Freie, die Menschen saßen wieder in den Schanigärten der Gasthäuser und plauderten mit ihren Freundinnen und Freunden, alle Nachbarstaaten erlaubten die Ein- und Ausreise, und es war wieder möglich nach Übersee zu verreisen, wenn auch etwas beschränkt. Dann kamen die Lockerungen. Überall sehr schnell, fast zu rasant.

Corona hat uns allen die Illusion genommen, wir könnten unter dem europäischen Schirm nicht nass werden. Weit gefehlt. Das unsichtbare Virus hat unser Leben mehr verändert, als wir es im Moment erfassen können. Flexibilität ist gefragt. 

Vieles wird leichter. Rezepte braucht man nicht mehr beim Arzt abzuholen, sie werden gleich online in die Apotheke geschickt, genauso Befunde. Bewerbungsgespräche finden online statt, private Plaudereien sowieso. Im Auto verwenden wir längst eine GPS-Navigation, in der Natur Wander-App und Schrittzähler, Drohnen besorgen diverse Messungen und Bilder, das Wetter wird uns auf Handydisplays geliefert. Sogar die diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur, der sogenannte Ingeborg-Bachmann-Preis, der üblicherweise in Klagenfurt stattfindet, flimmerte aus den Wohn- und Arbeitszimmern von Autorinnen und Juroren über den Bildschirm.  

Bei all den digitalen Abwicklungen und Verwicklungen vermisse ich immer noch die menschliche Nähe. Wir reichen einander nicht die Hände, gehen auf Abstand, starren die Gesichter unserer Gesprächspartner auf dem Bildschirm an, berühren uns nicht, und wenn, dann lassen nur unsere Ellenbogen oder Füße einander kurz spüren. Für fast alles gibt es eine App – Wetter, Kalorien, Zeitungen, Bücher, Kalender, Unterricht, Corona-Eindämmung – nur für Berührungen und Umarmungen, nach denen wir uns so sehr sehnen, nicht. Die lieben und brauchen wir analog. ● ○