Franz Schuh
Katharina Fröschl-Roßboth
Franz Schuh

Schuh

„Der Gestus der Entschlossenheit triumphiert“


Der Philosoph Franz Schuh über unsichtbare Macht, die Renovierung der alten Könige, die persönlichen Lehren aus seiner Profession und warum das Coronavirus binnen Wochen schaffte, was Klimaaktivistinnen und Wissenschafter seit Jahrzehnten einfordern.

„Nicht jeder“, sagt Franz Schuh, „der Philosophie studiert hat, ist ein Philosoph. Ich bin ein Literat mit philosophischen Interessen und abgeschlossenem Philosophiestudium“. Franz Schuh sitzt in der Mitte seiner Wohnzimmercouch, beide Beine fest am Boden, das Zimmer vor sich und im Rücken das Fenster, hinter dem ein Wien liegt, das in diesen Tagen in einen Ausnahmezustand gerät wie die gesamte, laut Selbsteinschätzung fortschrittliche, hochentwickelte Menschheit, die ein Virus namens SARS-CoV-2 zum Shutdown ihrer Ökonomie und ihres gesellschaftlichen Lebens zwingt. Unser Gespräch findet am 12. März nachmittags statt und nur Tage danach werden von Europas Regierungen Ausgangssperren verhängt, Lokal- und Geschäftsschließungen angeordnet, Versammlungsverbote, Verhaltensnormen und Freiheitseinschränkungen, die bis vor Kurzem als utopisch gegolten hätten. Im Mai erscheint das Gespräch mit Franz Schuh in morgen. Doch was morgen sein wird, getraut sich dieser Tage niemand zu sagen. Über gestern, heute und übermorgen allerdings, darüber lässt sich philosophieren.

morgen: Wie geht’s Ihnen persönlich mit dem Thema Coronavirus?

Franz Schuh

:

Ich bin 73. Einige der Jungen bedeuten mir, Pech gehabt, Corona sei mein, nicht ihr Problem. Elias Canetti schrieb über die Ambivalenz des Friedhofgefühls, dass die Leute andächtig am Grab herumstehen, sie als Überlebende aber klammheimlich über die Toten triumphieren.

Die Angst vor dem Virus lässt binnen kürzester Zeit Fabriken stillstehen, Flugzeuge auf dem Boden bleiben, Menschen ihre Gewohnheiten ändern, die CO2-Emissionen nach unten rasseln. Klimaaktivisten haben Ähnliches nicht in Jahrzehnten bewirkt, obwohl sie ebenfalls Schreckensszenarien für die Menschheit vorhersagten.

Franz Schuh

:

Als Spezies lernen Menschen vor allem mittels Katastrophen. Wenn eine Gefahr wie die Klimakrise nicht abrupt, sondern nach und nach auf sie zukommt, aktivieren sie in ihrem Mainstream weder Instinkte noch Intelligenz. Lediglich Katastrophen – und auch nur hautnah bevorstehende, unvermeidlich erscheinende – lassen Menschen in ausreichendem Maße fundamentale Veränderungen akzeptieren.

Der gesellschaftspolitische Klimawandel läuft schon länger. Wir erleben einerseits Political Correctness, anderseits eine zunehmende Wir-sind-wir- und Das-Boot-ist-voll-Mentalität. Wir erleben die Sehnsucht nach einer Social-Community-Individualität und zugleich die freiwillige Aufgabe von individueller Freiheit und Selbstbestimmtheit.

Franz Schuh

:

Dazu kommt, dass Macht lange Zeit nicht mehr an Königen festzumachen war, sondern Macht bis heute auch etwas ist, das sich das Individuum selbst antut, indem es Regulationen von außen akzeptiert und sie als Macht gar nicht (an)erkennt. Der Wechsel von Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung – und wieder retour – ist im Lebenswandel, auch in meinem, schwer erkennbar. Man lernt, für Freiheit zu halten, was man sich antut. Außerdem stellt sich heraus, dass es zur noch unsichtbaren, zur sich verbergenden Macht, die alten Könige wieder gibt: einen Trump, einen Putin, einen Erdoğan, einen Orbán. Und alle sind sehr sichtbar. Ihre Sichtbarkeit ist ein Fundament ihrer Macht. Wir erleben eine Renovierung der alten Tyrannen, es scheint ein Bedürfnis nach ihnen zu geben, auch in Österreich, und danach, dass man das, was an der Demokratie kompliziert ist, die Verfahrensregeln, die Langsamkeit, dass man das durch demonstrierte Entschiedenheit ersetzt. Der Gestus der Entschlossenheit, egal wozu, triumphiert. In der EU haben die meisten Nationen noch den Vorteil der Demokratie, dass man Könige, die man nicht mehr will, nicht aufhängen muss, sondern abwählen kann. Bleibt das Problem der Aufrüstung des Nationalismus. Das Chaos, das der autoritäre Nationalradikalismus auslöst, ist mindestens ebenso wenig kontrollierbar wie das Coronavirus.

Macht ist bis heute etwas, das sich das Individuum selbst antut.

Erleben wir gerade das Entstehen einer neuen Welt- und Gesellschaftsordnung?

Franz Schuh

:

Das Wesentliche des Augenblicks ist, dass man nicht sagen kann, was genau los ist. Vieles Alte löst sich auf, und das Neue ist noch nicht in Kraft, sodass es Sicherheit geben könnte. Alle positiven Veränderungen, alle demokratischen Errungenschaften wie Emanzipation, Aufklärung und Freiheitsrechte könnten wieder zurückgenommen und durch autoritäre Strukturen ersetzt werden. Allerdings: Einer der wichtigsten Sätze, die ich gelernt habe, stammt von Umberto Eco, der – ein Philosoph der Schönheit – mit seiner fantastisch hässlichen, krächzenden Stimme sagte: Man solle besonders in der Philosophie sehr aufpassen, allzu großflächige Theorien herzustellen, weil sie sehr ähnlich den Verschwörungstheorien seien. Und die sind ein Reflex der Empörung auf Unüberschaubares. Heutzutage gibt es dauerempörte Professionisten, die den Grad der Inhumanität, die unser System auch hat, regelrecht auskosten. Derartige Empörung bringt nur den Empörten etwas.

Was stattdessen tun?

Franz Schuh

:

Es gibt eine alte Regel. Beim ersten österreichischen Schriftsteller­kongress spazierte Bruno Kreisky vorbei und sagte: „Organisierts euch!“ Große Gesellschaften kann man nur als Organisation beeinflussen. Etwa beim Kampf gegen den Klimawandel. So einen Kampf zu gewinnen ist schwer, weil alles viel zu eingefahren ist. Der Mensch, sagte Hegel, lernt aus der Geschichte nur, dass er aus der Geschichte nichts lernt. Sieht man, denke ich, von den kurzfristigen Lehren aus einer Katastrophe ab.

Was halten Sie von Greta Thunberg?

Franz Schuh

:

Sie als Mutter Courage des Klimawandels zu behandeln oder gar als Jeanne d’Arc, erachte ich für übertrieben, bedeutend ist der politische Mechanismus, der einen Wandel herbeiführen könnte.

Aber den hat sie doch ausgelöst.

Franz Schuh

:

Ja, den hat sie ausgelöst, aber er hat mich nicht dazu gebracht, dem Spektakel zu trauen.

Warum nicht?

Franz Schuh

:

Wir haben die Spektakel ja erfunden, damit wir unsere Probleme nicht lösen müssen, sondern ausagieren können. Was es zu sehen gibt, sind Spektakel, Propagandafeldzüge, die uns nicht dazu bringen, etwas zu ändern. Wenn ein wirtschaftspolitisches System als Ganzes so eingefahren ist wie unseres, böte nur der radikale Infarkt eine Möglichkeit, das System als Ganzes zu ändern. Der Reformismus, dem ich anhänge, erhält das System. Sozialdemokraten wie ich sind den Revolutionären verhasst. Der Preis einer radikalen Systemänderung ist dem Sozialdemokraten zu hoch. Und andererseits bastelt er am System so lange herum, bis vielen die Revolution unnötig erscheint. Das macht die Revolutionäre wütend. Auch Greta Thunberg ist wütend, dass die Herrschenden „zu wenig machen“.

Den Glauben an die Aufklärung scheinen Sie aufgegeben zu haben.

Franz Schuh

:

„Glaube“ und „Aufklärung“ würde ich nicht so unschuldig nebeneinanderstellen. Bewusstmachung gibt es allemal, aber vor allem im Individuellen, weniger im Kollektiven. Dabei ist zwischen Disziplinargesellschaften und Kontrollgesellschaften zu unterscheiden. Disziplinargesellschaften sind typisch für die sichtbare Macht, sie haben ein Gefängnis, ein Kloster, sie benötigen Räume, um die Leute zu kontrollieren. Heute aber, in der Kontrollgesellschaft, hast du an jeder Ecke eine Kamera und kannst zuschauen, wie die Menschen herumtaumeln und sich kontrollieren lassen. Es herrschen die interagierenden Spiegel: Du siehst dich ständig im Spiegel und andere sehen dich und dadurch kontrollierst du dich, kontrollieren andere dich, kontrollieren alle sich gegenseitig und halten das für Freiheit.

Es gibt Formen der Selbstkasteiung, die gefährlich und selbstzerstörerisch sind.

Der Moralphilosoph Peter Singer setzt auf strenge, selbstauferlegte Verhaltensregeln, um einen Wandel herbeizuführen. Müssen wir uns kasteien, um ein guter Mensch zu sein?

Franz Schuh

:

Ich verteidige eine Lebensauffassung, bei der die Antwort auf diese Frage lautet: Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass es Formen der Selbstkasteiung gibt, die gefährlich sind und selbstzerstörerisch. Etwa die Dialektik der Kirche: die Besessenheit von Sexualität und der Abscheu vor der Sexualität. Als Übergewichtiger wiederum weiß ich, dass manche Kasteiung ganz falsch nicht ist. Im Gegenteil, sie ist notwendig – in meinem Fall wäre sie notwendig gewesen. Sobald man aber von anderen verlangt, sich zu kasteien, wird es heikel. Wer etwa das Rauchen verbietet, bedenkt nicht die Natur des Menschen. Sollte man nicht zugeben, dass das Leben hart ist und die Leute Dinge und Praktiken benötigen, mit denen sie sich von dieser Härte einigermaßen entlasten können, selbst wenn diese Entlastung mit Selbstschädigung einhergeht?

Je inkorrekter die von Ihnen erwähnten Könige sich verhalten, desto korrekter, so scheint es, muss das Volk sich verhalten. Wieso spielen Menschen da mit?

Die Untertanen sind vernünftig, sich als Untertanen von Tyrannen korrekt zu verhalten, alles andere kann tödlich sein.

Die Untertänigkeit ist allerdings auch in Mitteleuropa festzustellen.

Franz Schuh

:

In Ungarn sieht man das ja, die letzte Freiheit ist die Freiheit zu wählen. Gleichzeitig sorgen Tyrannen dafür, dass es keine Alternativen zu ihnen gibt. Am Schluss stehen nur sie selbst zur Wahl, und ihre größte Sorge ist, dass es vielleicht doch anders sein könnte. Am System Orbán lässt sich studieren, wie eine Demokratie Stück für Stück demontiert werden kann.

In Österreich haben wir keinen Tyrannen und dennoch einen markanten Hang zur Unterwürfigkeit. Warum?

Franz Schuh

:

Weil man unterwürfig mehr Erfolg hat als aufmuckend. Wir haben die Tradition des Obrigkeitsstaates, die ist weitaus älter als jeder Liberalismus. Ein Schlüsselerlebnis: Als Maturant war ich erstaunt, dass Kollegen sich überlegt haben, gehe ich jetzt zum CV oder zur SPÖ. Die haben nicht überlegt, welche Gesinnung habe ich, sondern, was ist jetzt von größerem Vorteil. Demokratie aber braucht das Gegenteil von Gesinnungslosigkeit und Unterwürfigkeit. Demokratie braucht Helden, und ohne Zweifel, solche Helden gibt es auch in Österreich, es gibt hier eine nonkonformistische Tradition, die in den eingeübten Selbstdenunziationen nicht vorkommt.

Was kann der Mensch Franz Schuh vom Philosophen Franz Schuh lernen?

Franz Schuh

:

Dass er kein Philosoph ist, sondern ein ewiger Student. ● ○