Luiza Puiu

Time Machine

Klick, die Urgroßmutter


Ein hoch dotiertes EU-Projekt soll virtuelle Reisen in die Vergangenheit möglich machen: Die „Time Machine“ mit Hauptsitz in St. Pölten verknüpft 500 europäische Institutionen zu einem dichten Netzwerk. Es wird die Archiv- und Geschichtswissenschaft revolutionieren, aber auch Hobby-Genealogen wie Otto Amon die Arbeit erleichtern. Der gebürtige Niederösterreicher führte morgen in die Faszination der grenzüberschreitenden Stammbaumforschung ein.

Otto Amon sitzt an seinem großen Schreibtisch in seiner Wohnung in Wien-Grinzing und pflegt seinen Stammbaum. Hell leuchten ihm drei große Bildschirme entgegen, sie zeigen Formulare mit vielen Feldern. Ein Name und ein Geburtsdatum aus dem letzten Jahrhundert, es ist der Name seiner vor wenigen Jahren verstorbenen Mutter. „Vor dem Tod der Eltern wirkt das Leben unendlich“, sagt er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Was er nicht sagt: Als seine beiden Eltern starben, hat all dies begonnen. Seitdem interessiert er sich brennend dafür, wer vor ihm kam. Plötzlich habe er seine Vorfahren „kennenlernen“ wollen. 

Viele Menschen kennen wohl nicht einmal die Namen ihrer Urgroßeltern. Für Otto Amon dagegen wurde die akribische Suche nach seinen Wurzeln zur Sucht. Immer weiter reiste der ehemalige Handelsattaché dabei in die Vergangenheit – immer verzweigter, immer breiter wurden die Äste seines Stammbaums. Beim Erzählen kommt er vom Hundertsten ins Tausendste. So ist das wohl mit der Ahnenforschung.

1.176 Menschen hat der aus Niederösterreich stammende Hobby-Ahnenforscher in den letzten Jahren gefunden. 1.176 Menschen, von denen er abstammt. 1.176 Menschen, die es geben musste, damit es ihn heute gibt, wie er begeistert erzählt. Das Ergebnis seiner Mühe ist ein meterlanges Dokument, auf dem seine Ahnenreihe aufgezeichnet ist. Er präsentiert es bei Zusammentreffen mit anderen Ahnenforscherinnen und -forschern. Doch diese Treffen sind selten, die Genealogie ist ein eher einsames Unterfangen. Meistens sitzt Amon alleine in seinem Kämmerchen und bastelt an einer selbst programmierten App, mit der er seine Vorfahren digital verwaltet.

Klick. Die Großmutter. Klick. Die Urgroßmutter. Klick. Die Ururgroßmutter. Jeder Mausklick eine Generation, zurück bis zu den Urahninnen. Die Verwandtschaftsbezeichnungen der zeitlich entfernten Verwandten klingen ernst und feierlich.
Aber um die Menge geht es ihm gar nicht, vielmehr interessieren ihn die Leben und Schicksale seiner Ahninnen und Ahnen. Er erfährt nicht nur ihre Namen, sondern auch, welche Berufe sie hatten, wen sie heirateten oder woran sie starben. Und wo sie lebten – denn nicht alle Mitglieder seiner seit mehreren Hundert Jahren im nördlichen Weinviertel ansässigen Familie stammen von dort. Sie verteilen sich quer über Europa.

Zum Beispiel Olivio Francesco. Er lebte im 17. Jahrhundert, war ein Venezianer mit einem sehr venezianischen Beruf: Gondoliere. Er folgte einer Stellenausschreibung des Theodor Graf von Sinzendorf. Bei einer Reise nach Venedig war der Weinviertler Graf von den Gondeln so beeindruckt gewesen, dass er vor seiner Burg einen Burggraben samt See anlegen ließ, auf dem sich Olivio Francesco mit zwei Kollegen verdingen durfte. Er blieb und wurde Teil des Stammbaums von Otto Amon. 

Grenzverschiebungen

Ahnenforschende erfahren nicht unendlich viele Details über die Vorfahren, sondern auch, wie leicht man bei der eigenen Familiengeschichte Ländergrenzen überschreitet. Das traditionell eher in konservativen Kreisen anzutreffende Hobby entpuppt sich also schnell als potenziell horizonterweiternde Recherche, denn es gibt wohl keine europäische Familie, die sich bis in alle zurückreichende Ewigkeit in demselben Dorf fortgepflanzt hat, ohne je „Zugereiste“ in die eigenen Reihen aufgenommen zu haben. Und es zeigt sich, wie eng die Geschichten der einzelnen europäischen Nationen verwoben sind. Ländergrenzen wurden nach Kriegen und Streitigkeiten mal hierhin, mal dorthin verschoben. Ein und derselbe Ort in einer Grenzregion gehörte mal zum einen, dann zum anderen Land. 

Vielleicht war dieser kosmopolitische, horizonterweiternde Aspekt einer der Gründe dafür, dass die Europäische Kommission jüngst entschied, mit der „Time Machine“ zum ersten Mal überhaupt ein geisteswissenschaftliches Forschungsvorhaben zum digitalen Vorzeigeprojekt zu adeln, indem es dieses mit der für den Kulturbereich beachtlichen Summe von einer Million Euro finanziert. Denn im Bereich „Future and Emerging Technologies“ wurden bisher nur naturwissenschaftliche oder informationswissenschaftliche Unterfangen gefördert. „Noch nie hat es ein Kulturerbeprojekt so weit geschafft“, sagt Thomas Aigner stolz. Er ist Direktor des St. Pöltner Diözesanarchivs und leitet das Projekt mit dem futuristisch klingenden Titel. 

Er sitzt in einem Wiener Kaffeehaus und träumt von den Möglichkeiten, welche die „Time Machine“ in Zukunft einmal bieten könnte: „Wenn man sich fragt, wie es hier vor 100 Jahren ausgesehen haben könnte, wird die Maschine eine Simulation errechnen können, eventuell sogar mit alten Audiodateien und Fotografien. Visualisieren könnte man das zum Beispiel mit einer Virtual-Reality-Brille.“ 

Durch die Verknüpfung eines Namens mit vielen anderen Informationen entsteht etwas, das tatsächlich einer Zeitmaschine ähnelt. Und so könnte sie funktionieren: Man gibt den Namen eines Vorfahren in eine Suchmaske ein und sieht sofort mit wem diese Person verwandtschaftlich oder beruflich verbunden war – die Macherinnen und Macher sprechen auch vom „Facebook der Vergangenheit“. Ein Netzwerk aus Namen wird angezeigt, bebildert mit Fotos oder Zeichnungen. Alte Stadtpläne und Bauzeichnungen können dann zeigen, in welchen Vierteln, in welchen Gebäuden sich dieser Mensch aufgehalten hat und wie es dort aussah. In diese vergangene Welt könnte man sich bequem am Bildschirm hineinzoomen. Wie man heute Google Maps zur Suche von Adressen verwendet, könnte man in ein paar Jahren in der „Time Machine“ auf den Spuren seiner Vorfahren wandeln.  

Schon jetzt stehen 500 europäische Institutionen hinter dem Projekt, darunter zahlreiche Archive, Universitäten und Technologiefirmen wie die Computerspielfirma Ubisoft. Letztere will die historische Recherche nutzen, um originalgetreue, in vergangenen Epochen angesiedelte Spiele zu programmieren. All die Unmengen von Daten, die in Archiven in ganz Europa bislang eher ein Schattendasein fristeten, sollen jetzt in eine Suchmaschine gespeist und damit einem riesigen Publikum per Mausklick zugänglich gemacht werden. Was dem Boom der Ahnenforschung sehr entgegenkommt.

Als Quellen dienen dieser keineswegs bloß Geburts- und Sterbeurkunden, sondern auch die zahllosen Zettel und Papiere, die ein Leben bürokratisch begleiten: Heiratsurkunden, Gerichtsdokumente, Geschäfts- oder Konkursanmeldungen, Steuererklärungen, Grundbucheinträge, Rechnungen und so weiter. Bis jetzt waren diese Informationen nur entschlossenen Hobbyforscherinnen und -forscher mit der nötigen Freizeit zugänglich. In Zukunft soll jede und jeder mit wenigen Klicks digital in die Vergangenheit reisen können. 

Dabei geht es nicht nur ums Sammeln, Einspeisen und Verfügbarmachen all dieser Daten, sondern vor allem auch um die Verknüpfung. Das ist technisch weitaus komplizierter, als es klingt, erklärt Archivar Aigner: „Wir müssen die Maschinen erst trainieren. Noch brauchen wir Menschen, um die Informationen zu validieren und zu verifizieren.“ 

Die „Time Machine“ wird auch die Geschichts- und Archivforschung revolutionieren: „Wir lösen uns vom Objektbegriff. Es geht nicht mehr um die Dokumente, sondern nur noch um die Information, die sie enthalten“, so Thomas Aigner. Derzeit ist er noch damit beschäftigt, die vielen europäischen Partner zu koordinieren. 

Detektivsuche

Wo wäre Otto Amon heute, hätte es die „Time Machine“ gegeben, als er mit seiner Recherche startete? In den vergangenen Jahren legte er jedenfalls viele weite Wege zurück. Er hat sich aufgemacht zu kleinen, entfernt liegenden Dorfarchiven und saß dafür viele Stunden im Auto. Er erinnert sich, wie er einmal nach mehreren Stunden Autofahrt in einem kleinen Dorf ankam und vor einer verschlossenen Tür stand. Es hatte geheißen, das Archiv sei von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Doch als er ankam, war der Pfarrer verreist – der Einzige, der einen Schlüssel besaß. Besuch kommt wohl sehr selten. 

Die analoge Ahnenforschung ist langwierig und detektivisch. Otto Amon erzählt von einem besonders schwierigen Fall, der ihn jahre­lang beschäftigt hat. Es ging um einen entfernten Verwandten, einen Fleischhauer namens Ignaz. Amon wusste weder Geburts- noch Taufdatum, hatte keine weiteren Informationen über diesen in der Anonymität verschollenen Menschen. Schließlich fand er ihn, erwähnt in einem Dokument aus der Zeit der Grundherrschaft. Das Papier, nach dem er jahrelang gesucht hatte, zeigt der Hobby-Genealoge als Scan auf seinem Bildschirm: Auf dem stockfleckigen, vergilbten Dokument stehen die Namen seines Ahnen und von dessen Geschwister, geschrieben in einer Kurrentschrift, die in ihrer schlichten, wellenartigen Ästhetik fast modern wirkt. Das Dokument hat Amon analog aufgetrieben, mittlerweile ist es online zu finden.

Fehlte ihm nicht etwas, wenn all das wegfiele, der Geruch des alten Papiers und die aufregenden Erfolgserlebnisse, wenn er nach langer Recherche endlich das richtige Papier in den Händen hält? Otto Amon schüttelt den Kopf. Zwar liebt er das Flair der alten Archive und opulenten Bibliotheken. Aber die digitalen Möglichkeiten machen die Suche nach seinen Vorfahren schon jetzt viel einfacher. ● ○