Clemens Schmiedbauer

Europäische Literatur

„Wie überbrückt man das große Schweigen?“


Was ist europäische Literatur – insbesondere in einer Welt globalisierter Verhältnisse, veränderter technischer Bedingungen und sozialer Konditionen?

Ganz im Sinne von morgen-Gründer György Sebestyén reflektieren die Autorin Luna Al-Mousli, die Jugendliteratur-Expertin Veronika Trubel und der Schriftsteller Walter Grond Themen wie Mehrsprachigkeit, die Bedingungen des Schreibens und Lesens sowie die grenzüberschreitenden Herausforderungen künstlerischer Traditionen. Das Treffen fand im Wiener Kunst-Diskursraum Depot statt.

morgen: Lässt sich europäische Literatur definieren und wenn ja, wie könnte so eine Beschreibung aussehen – nicht zuletzt um in Bezug zu ihr Literatur zu schreiben, zu vermitteln oder zu organisieren? Braucht es so eine Definition heutzutage noch, um Menschen im Sinne gelebter Kultur einander begegnen zu lassen oder die europäische Literatur in eine Form von Denk- und Handhabbarkeit zu bringen?

Luna Al-Mousli

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Ich glaube, dass sich die europäische Literatur, so meine Wahrnehmung, verstärkt und auf eine sehr lebendige Weise verändert, weil vermehrt Stimmen gehört werden, die früher nicht so präsent waren. Und ich meine damit beispielsweise, dass auch Schreibende, die etwa die Hälfte ihres Lebens hier verbracht haben, Österreich repräsentieren können. 

Ist das ein Moment der Aufwertung, der sich nicht nur geografisch fassen lässt – etwa in einer neuen Sensibilität für zentraleuropäische Literatur – sondern auch im Rahmen organisierter Begegnungen von Jugendlichen aus unterschiedlichsten Ländern, die eine kurze Zeitspanne miteinander verbringen?

Veronika Trubel

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In unserer Arbeit bringen wir sehr unterschiedliche Jugendliche zusammen, natürlich auch Jugendliche mit außereuropäischem Migrationshintergrund. Das ist ein bewusster Versuch, an ein gemeinsames geschichtliches Feld, an die ereignisreiche Geschichte dieses eigentlich winzigen Kontinents anzuknüpfen – etwa auch an die Erfahrung des Eisernen Vorhanges. Die Jugendlichen, mit denen wir jetzt arbeiten, sind alle nach dem Fall des Vorhanges und der Berliner Mauer geboren, und das wird auch deutlich spürbar. Es gibt etwas wie eine gemeinsame Geschichte, auf die man sich berufen kann. 

Gilt das auch aus der Autorenperspektive, die sich dann bewusst dem Organisieren von Literatur zuwendet? Gibt es diese Geschichte, auf welchen Leitlinien baut sie auf?

Walter Grond

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Hier muss man wohl zwischen den Ländern gemäß ihrer Geschichten als Kolonialmächte unterscheiden. Da gibt es die bemerkenswerte Entwicklung der Durchmischung, die im deutschen Sprachraum noch nicht in diesem Umfang gemacht wurde. Denkt man etwa an einen Autor wie den im Irak geborenen Najem Wali, der in den 1990er-Jahren nach Deutschland geflüchtet ist, dann ist das ein sehr gutes Beispiel für eine Position, die sich gegen einen Migrationsbegriff verwehrt. Wali versteht sich als deutscher Staatsbürger, als deutscher Autor. Da manifestiert sich etwas wie eine Demarkationslinie, die das Selbstverständnis der Literatur verändert hat – und das finde ich sehr gut. Wenn ich aber grundsätzlich über die aktuellen Bedingungen europäischer Literatur reflektiere, muss ich immer auch die geschicht­liche Dimension berücksichtigen. Um bei Wali als Beispiel zu bleiben: Das ist ein Autor, der in Bagdad deutsche Literatur studiert hat, und das ist insbesondere für seinen Zugang auf die Welt von Bedeutung, denn dieser Zugang ist durch den europäischen Roman geprägt. Das ist für mich die Verschriftlichung des Versuchs, sich der Welt anzunähern, sie zu erzählen – eben nicht als religiöse Heilsbotschaft. Ich sehe zumindest zwei sehr gute Gründe dafür, dass es eine europäische Literatur und nicht nur europäische Literaturen gibt. Einerseits ist die Tradition des europäischen Romans nicht ohne eine zentrale Form von Urliteratur denkbar, Homers „Odyssee“. Das ist, folgt man Theodor W. Adorno, die Grundgeschichte eines Mannes, der sich von den Mythen freimacht, als eine Geschichte bürgerlicher Selbstermächtigung – etwas, wofür die europäische Kultur ja generell stehen will. Andererseits ist in diesem Epos, im Unterschied zur Literatur anderer Weltteile, bereits der Anspruch auf Autorschaft angelegt oder auch der Wunsch, universelles Ausdrucksmittel zu sein. Europäische Literatur hat immer schon die zivilgesellschaftliche Entwicklung des Kontinents reflektiert, wie also aus dem feudalen Mosaik schließlich Nationalstaaten werden. Worüber wir dabei richtigerweise, insbesondere nach 1945, immer noch reden, sind die Verbindungen zwischen Kultur, Identität und Werten.

Stimmen, die früher nicht so präsent waren, werden verstärkt gehört.

Literatur greift ein, oftmals scheint sie aber ausschließlich zu reflektieren. Die Mythen, von denen man sich freimacht, werden dann nicht selten durch neue ersetzt. Wie überträgt sich das auf die aktuellen Herausforderungen in der Vermittlung von Lese- und Schreibtraditionen?

Trubel

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Wir verwenden Literatur im besten Sinne fast schon wie ein Werkzeug. Wir stellen uns die Frage, was tut Literatur und was kann ich mit ihr machen? In meiner Arbeit bringen wir oft Jugendliche benachbarter Länder zusammen, die trotz geografischer Nähe nichts von einander wissen. Wie also überbrückt man das sprichwörtlich große Schweigen, selbst bei Generationen, die in friedlichen Zeiten aufgewachsen sind? Wir stiften eine Begegnung im Schreiben, wir bieten Literatur als Raum des Austauschs und der positiven Erfahrung an. Das Gemeinsame steht dabei stets im Vordergrund, etwa ein gemeinsamer, grenzüberschreitend vorhandener Humor. Die Lektüreerfahrung der Jugendlichen ist dabei aber nicht nur vom jeweiligen Schulsystem abhängig, sondern verstärkt auch vom Einsatz einzelner engagierter Lehrkräfte, die beispielsweise europäische Klassiker neu erfahrbar machen wollen. Jedes Lesen ist gut und zeigt sich auch im Schreiben, das wir im besten Sinne auf traditionelle Weise anbieten. Man sieht, dass die Jugendlichen in der Verschriftlichung dieser Begegnungen auch zu ihren ganz eigenen Themen finden. Wir geben hier mehr Anleitungen denn Vorgaben, wir ermutigen zur kritischen Auseinandersetzung.

Der Moment literarischer Produktion kann auch zur Reflexion der eigenen Position einladen. Luna, siehst du dich als europäische Autorin oder würdest du eher einzelne Aspekte deines Schreibens als europäisch beschreiben? Wie stark basiert dein Schreiben auf einem Prozess der Lektüre?

Al-Mousli

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Das mag paradox anmuten, aber ich würde sagen, ich sehe mich als europäische Autorin und zugleich auch nicht. Ich bin ja in Österreich geboren, habe aber in Syrien gelebt. Mein erstes Buch ist in einer zweisprachigen Ausgabe, in deutscher und arabischer Sprache, erschienen. In der Zusammenarbeit mit dem Verlag war das ein spannender, aber auch fordernder Prozess. Insbesondere bei der Buchgestaltung hatte ich mir da vorab viel überlegt, damit alle Leser sozusagen gleichberechtigt sind oder auch die Illustrationen wirken, egal wie man das Buch wendet. Lesen ist mir sehr wichtig, aber sobald ich an einem Projekt arbeite, bin ich ganz darauf konzentriert. Da würde mir Lektüre Konzentration wegnehmen, mich wohl auch irritieren. Da suche ich lieber den Austausch mit anderen Schreibenden oder Freunden, die meine Arbeiten als Erste lesen. Inmitten des Prozesses ist es etwas wie ein Austesten von Ausschnitten. Das Buch als Ganzes ist und bleibt aber wesentlich.

Das Buch dient als zentrales, verbindendes Moment, es ist Raumangebot, Erinnerungsobjekt und Teil des europäischen Kulturerbes. Buch und Literatur sind stets Veränderungen unterworfen, eben weil Literatur in ihrer Vielgestaltigkeit Lebendigkeit und Beweglichkeit braucht. Es bleibt zu hoffen, dass sich hier keine Verabschiedungen einstellen, sondern freundliche und überraschende Ergänzungen.

Al-Mousli

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Das klassische Buch gibt mir eine besondere Wertigkeit, die zumindest für mich mit einem E-Book nicht zu vergleichen ist. Als Autorin, aber auch als Leserin ist mir die Haptik sehr wichtig. Wie ist etwa das Papier beschaffen, wie bestimmt das Format eines Buches meinen Umgang? Kann ich das Buch in meiner Tasche mit mir herumtragen oder muss ich dafür einen Tisch freiräumen? Ich denke, mir erzählen diese Qualitäten nicht nur viel über den Inhalt des jeweiligen Werks, sie bringen mich im wortwörtlichen Sinne zur Auseinandersetzung mit der Haltung, in der ich das jeweilige Buch lese. Und ich glaube nicht, dass die Jugendlichen das völlig verlernt haben – im Gegenteil, ich bin sogar davon überzeugt, dass das Buch als Objekt wieder wichtiger werden wird.

Geschichten schreiben ist immer auch Annäherung an Geschichte, eben weil Historie erzählt werden muss, will sie vermittelbar bleiben. Was kann die europäische Literatur uns heute anbieten, um mittels ihrer Motive und Stoffe zu einem besseren Umgang mit unserer Gegenwart – die mitunter ja auch eine ziemliche Zumutung sein kann – zu finden? Und wie fügen sich Formen weiblichen Schreibens oder die Literatur junger Menschen in die skizzierten Konzepte ein, die ja ganz vorsätzlich vom Roman abrücken? Es geht in der europäischen Literatur, so wie wir sie besprechen, ja immer auch um den Erhalt von Vielstimmigkeit auf vielen Ebenen. 

Grond

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Ja, wir sehen einen großen Aufbruch einer Vielzahl von europäischen Autorinnen, die stark wahrgenommen werden und auf der formalen Ebene einen Bruch mit dem mitunter imperialistischen Konzept des klassischen Romans vollziehen. Das Aufbrechen und Hinterfragen starrer Nationalvorstellungen durch die Literatur halte ich für eine ganz großartige Entwicklung. Gleichzeitig gibt es aber die Ebene der länderspezifischen Literaturbetriebe, die nach wie vor nationalstaatlich organisiert sind, da zeigt sich also eine Form von innerem Widerspruch. Die Europäischen Literaturtage verstehe ich als Glücksfall, als eine Art von Labor, das zeigt, wie Begegnung über Sprach- und Ländergrenzen hinweg funktionieren kann.

Trubel

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Ich bin der Ansicht, es ist generell viel geleistet worden und wir sollten durchaus selbstbewusst das Gemeinsame in den Vordergrund stellen. Bei aller Unterschiedlichkeit zeigt sich bei den Jugendlichen stets eine wertschätzende, interessierte Begegnung. Der Austausch, den wir anbieten können, ist ein Impuls, der wirksam bleibt und der die Neugier erhält. Literaturgruppen und Freundschaften entwickeln sich und bleiben bestehen, einzelne wenden sich dem Poetry-Slam zu, andere arbeiten an großen, oft auch zeitgeschichtlich inspirierten Erzählungen. Der grundlegende Impuls setzt sich also fort. Das Europäische zeigt sich dabei für mich wie bei einer Familie, wir sollten immer lernen wollen, einander noch besser zuzuhören. Im Bezug auf Literatur müssen wir einen offenen Austausch auf vielen Ebenen fördern, will man sich auch weiterhin als stabiler Kulturraum verstehen und als solcher bestehen. ● ○