Coudenhove-Kalergi

„Nur gemeinsam war dieser historische Erfolg möglich“


Die Weltbürgerin und legendäre ORF-Korrespondentin Barbara Coudenhove-Kalergi über Regionalismus, Nationalismus und Europa, über Sinn und Unsinn von Grenzen – die aus Draht und die in unseren Köpfen.

Die Bereitschaft für die Welt beginnt vor der eigenen Haustür. Die Grande Dame des österreichischen Journalismus hat neben ihrer Klingel in der belebten Wiener Innenstadt ihren vollen Namen stehen. „Ich werde doch keine Nummer draufschreiben, Besucher sollen sich willkommen fühlen“, sagt Barbara Coudenhove-Kalergi und winkt die Fotografin und mich ebenso energisch wie herzlich in ihre Wohnung. Hohe, helle Räume, Bücherregale, lebendig gemusterte Polstermöbel, viele Bilder an den Wänden, Fotografien. Über dem Schreibtisch ein Stückchen Grenz-Stacheldraht aus dem Öffnungsjahr 1989, eigenhändig herausgeschnitten von den damaligen Außenministern der Tschechoslowakei und Österreichs, Jiří Dienstbier und Alois Mock. „Ich habe selbst noch erlebt, was es heißt, bei Grenzen anzustehen, abgewiesen zu werden. Es ist Schicksal, auf welcher Seite des Zauns man geboren wird. Schicksal, wie die Weltpolitik einem mitspielt. Das sollten die jeweils Privilegierten nie vergessen.“

Die Privilegierten und die Unterprivilegierten. Vielleicht ist es das entscheidende Thema der 1932 in eine adelige Familie geborenen Barbara Coudenhove-Kalergi. Im Gespräch wird sie es immer wieder streifen, immer wieder darauf zurückkommen und sich selbst daran erinnern, wenn sie womöglich versucht ist, eine Schlussfolgerung zu ziehen, die aufs Erste betrachtet klug sein mag, jedoch die Lebensumstände anderer, weniger privilegierter Menschen außer Acht lässt. Die Intellektualität der Privilegierten, jener von Zufall und Zeit bevorzugten Menschen – stets birgt diese Intellektualität die Gefahr, zum Gegenteil ihrer Absicht zu führen, nämlich zu ideologischer Blindheit. Denken und Reden und sich gegenseitig Zustimmen in der jeweiligen sozialen Blase, immer schon gab es das. Und niemand ist davor gefeit – die Bildungsbürgerin, ehemalige Journalistin, ORF-Osteuropa-Korrespondentin und Buchautorin Barbara Coudenhove-Kalergi weiß es aus Erfahrung. Lächelnd sitzt sie vor mir, elegant und schlicht zugleich, in einem dunkelblauen Sommerkleid und überaus sportlichen, geradezu kecken Espadrilles. Dazu trägt sie – bei ihr fast obligatorisch – eine weiße Perlenkette. Noch immer lächelt sie. Leise Skepsis mag in diesem Lächeln enthalten sein, doch auch Grundvertrauen und, das vor allem, die Bereitschaft, sich aufs Vorzüglichste überraschen zu lassen. Blau und Weiß, diese beiden Farben trägt sie, jene der Hoffnung also und jene der Reinheit – und damit vielleicht auch der absichtsvollen Unvoreingenommenheit entgegen aller grellen Erfahrungen.

Sieben Jahre alt war sie, als die Nazis 1939 in ihren Geburtsort Prag einmarschierten, 13, als sie gemeinsam mit ihrer deutschsprachigen Familie 1945 aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde. Die Flucht über Bayern endete in Österreich, zuerst im salzburgischen Lungau, im abgelegenen Jagdhaus des Großvaters, später, nach den Schuljahren, und endlich für die junge, städtisch geprägte Barbara, in Wien. Dort liest sie noch mehr als zuvor. Arthur Schnitzler und Robert Musil. Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch. Joseph Roth und Karl Kraus. Sie studiert Dolmetsch, dann Soziologie, arbeitet nebenbei für die Caritas, die zu jener Zeit vom legendären Prälaten Leopold Ungar geleitet wird, und beginnt danach ihre journalistische Karriere. „Karriere kann man nicht sagen“, meint Barbara Coudenhove-Kalergi. „In meinem Leben haben sich die Dinge immer mehr ergeben, als dass ich sie groß geplant hätte.“ Das Leben stelle einen irgendwo ab in Zeit und Raum und dann könne man das Bestmögliche daraus machen. Wenn man Glück habe und privilegiert sei, falle das freilich unvergleichlich leichter. Dank persönlicher Kontakte also – und dank ihres Talents – schreibt sie für die Presse, für das Neue Österreich und danach für die Arbeiter-Zeitung. Eingestellt wird die junge Reporterin vom neuen Parteivorsitzenden höchstpersönlich, von Bruno Kreisky. „Er hat geschafft, was heute keiner mehr so kann“, erinnert sich Barbara Coudenhove-Kalergi, „nämlich eine liberale Breite zu schaffen, ein politisches Fundament, auf dem die verschiedensten Menschen mit den verschiedensten politischen Einstellungen ein Einvernehmen finden können, ohne den eigenen Standpunkt verlassen zu müssen.“

morgen: Ihr Ehemann Franz Marek war Mitglied der französischen Résistance. Haben wir die Pflicht, politisch aktiv zu werden, wenn die Dinge falsch laufen?

Barbara Coudenhove-Kalergi

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Nicht die Pflicht, aber aus Eigeninteresse sollten wir es tun. Mache du die Politik oder die Politik macht etwas mit dir.

Als Studentin stellten Sie sich die Frage, warum es nicht gelingt, die großen Ungerechtigkeiten zu beenden, warum es etwa noch immer bitterarme und unmittelbar daneben wahnwitzig reiche Menschen gibt. In Ihren Erinnerungen „Zuhause ist überall“ schreiben Sie, Sie hätten Soziologie studiert, um herauszufinden, „was unsere Welt und unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält“. Haben Sie heute eine Antwort darauf?

Coudenhove-Kalergi

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 Ich denke, Egoismus ist dem Menschen immanent. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch in Ordnung so. Aber wir haben die Relationen verloren. Ich habe noch immer die Hoffnung, dass sich das einmal ändern wird. Wir sollten die Grenzen zu jenen, die es nicht so gut haben, durchlässiger machen. Jeder hat zu Recht den Wunsch nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach den eigenen vier Wänden. Insofern sind Grenzen und Zäune okay, aber was hindert uns, ein Türl in unseren Gartenzaun einzubauen? Was hindert uns, über unsere Zäune hinweg miteinander zu reden, uns auszutauschen, uns zu helfen, wenn’s nötig ist?

Sie arbeiteten schon als junge Frau für die Caritas, und bis vor Kurzem haben Sie zehn Jahre lang Asylwerbern zweimal wöchentlich Deutschunterricht gegeben.

Coudenhove-Kalergi

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Jeder sollte dem Herrgott für sein Glück danken, indem er anderen davon abgibt. Jeder so viel, wie er glaubt. Wir vergessen oft, dass wir im Luxus leben. Luxus ist nämlich schon, dass wir eine Wohnung haben, das Wasser aufdrehen können, aus der Leitung trinken können. Milliarden Menschen auf der Welt haben das nicht. Wir vergessen allzu schnell auf die, die im falschen Land, zur falschen Zeit, unter den falschen Umständen geboren wurden, die nicht unser Zufallsglück hatten.

Ihr Onkel, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, gilt als einer der wichtigsten geistigen Väter der Europäischen Union. 1922 gründete er die Paneuropa-Bewegung, die sich die Vereinigten Staaten von Europa zum Ziel setzte. Nur ohne Nationen sei dauerhafter Frieden auf unserem Kontinent möglich.

Coudenhove-Kalergi

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Onkel Dicky war ein Visionär. Aber selbst in unserer Familie ist er nie ganz ernst genommen worden. Er behielt nach dem Ersten Weltkrieg ja leider recht, die Integration innerhalb Europas war zu lose und es kam erneut zum Krieg. Dennoch glaube ich, dass eine europäische Bundesregierung und ein europäisches Bundesparlament auch heute und in absehbarer Zukunft noch nicht realistisch sind. Die meisten Menschen sind einfach nicht bereit dafür. Und Regional­patriotismus ist ja durchaus okay. Man kann Europäer sein und zugleich Österreicher und Niederösterreicher und Weinviertler. Das schließt sich doch nicht aus. Man muss die Franzosen nicht hassen, um das Pustertal zu lieben.

Man muss die Franzosen nicht hassen, um das Pustertal zu lieben.

Ihre Familie heiratet seit fünf Generationen grenzüberschreitend. Ihre Mitglieder sind auf beinahe allen Kontinenten daheim, in verschiedenen Ländern, verschiedenen Religionen und Sprachen. Was kann die Welt von der Familie Coudenhove-Kalergi lernen?

Coudenhove-Kalergi

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Dass Internationalismus und regionales Heimatgefühl einander nicht ausschließen. Dass Weltoffenheit bereichert. Im Amerikanischen gibt es den Ausdruck third culture kids. Gemeint sind junge Leute, die in einer Kultur aufwachsen, in eine andere überwechseln und aus diesen beiden Kultur etwas gänzlich Neues machen, etwas Drittes, ihre eigene Kultur. Freilich ist auch das Gegenteil okay, freilich ist es auch in Ordnung, wenn beispielsweise Mistelbacher fünf Generationen hintereinander immer nur Mistelbacher heiraten und unter sich bleiben, aber es wird eben etwas anderes dabei herauskommen. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung.

Wie viel Integration wird in Europa nötig und möglich sein, um sowohl den internen Frieden zu bewahren als auch international zu bestehen?

Coudenhove-Kalergi

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Man muss ja nur auf eine Weltkarte schauen, die an einer Wand hängt. Da muss man schon ganz, ganz nahe hingehen, um Österreich oder Belgien oder Ungarn darauf überhaupt zu finden. China, Russland und die USA sind größer als alle Länder Europas zusammen. Wir können in dieser Welt als Europäer nur gemeinsam bestehen. Die EU ist ein riesengroßer Fortschritt. Sie hat Fehler, ja. Aber sie ist die Lösung, wir müssen weiterhin daran arbeiten.

Derzeit schwingt das Pendel der Geschichte ins Gegenteil, zurück Richtung Nationalismen.

Coudenhove-Kalergi

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Ja, es scheint so. Aber es wäre verheerend. Es ist ein großer Irrglaube, dass Nationalismus irgendwelche Probleme löst. Nationalismus beschwört neue Probleme herauf und ist letztlich unkontrollierbar. Und oft tödlich. Die Menschen vergessen das immer wieder, jede Generation aufs Neue. Dazu kommt aktuell ein Ton in der Politik und unter den Menschen, der besorgniserregend und gefährlich ist. Es ist heute normal, Dinge zu sagen und zu tun, die noch vor zehn Jahren unmöglich gewesen wären. Die Menschen vergessen zuweilen ihr Höchstes und kehren ihr Tiefstes heraus. Es liegt an jedem, da nicht mitzumachen, sich Tag für Tag für das anständige Menschliche zu entscheiden.

Was ist die Aufgabe der Politik in dieser Situation?

Coudenhove-Kalergi

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Die Politik muss einen klugen Mittelweg finden. Sie muss die Ängste und Bedenken der einfachen Menschen ernst nehmen, darf aber zu keiner Zeit den niederen Instinkten nachgeben – oder sie gar schüren.

Was braucht es, um die nötigen Reformen in Europa umzusetzen? Was kann das heutige Europa aus seiner Vergangenheit lernen?

Coudenhove-Kalergi

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Das K.-u.-k.-Österreich war von der Idee her ja bereits ein Vorläufer der Europäischen Union. Leider haben wir es damals vergeigt. Es geht immer um eine Balance aus Geben und Nehmen; es geht um ein integratives Vorankommen, ohne dabei die Gefühle und Lebensumstände der einfachen Menschen zu vernachlässigen.

Vom ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, stammt der Satz, wer zu spät komme, den bestrafe die Geschichte. Zuweilen scheint es auch umgekehrt zu sein. 1968 etwa wurde der Prager Frühling, also die Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschechen, von russischen Panzern niedergewalzt. 1989 hingegen gelang die Samtene Revolution. In ganz Osteuropa fiel der Eiserne Vorhang, in Berlin die Mauer. Worin lag der Unterschied?

Coudenhove-Kalergi

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Zum einen war die Sowjetunion wirtschaftlich 1989 schon sehr geschwächt, was den Handlungsspielraum gegenüber ihren Satellitenstaaten einschränkte, dazu kam mit Gorbatschow ein politischer Führer, der es mit der Öffnung ernst meinte. Entscheidend war aber auch, dass 1989 die Masse der Arbeiter und die Intellektuellen zusammenhielten. Nur so, nur gemeinsam, war dieser großartige historische Erfolg möglich.

Barbara Coudenhove-Kalergi, diese beherrschte, sich schlicht gebende, große Dame, hat zartrosa Wangen bekommen vor Leidenschaft. Sie ist in ihrem Element. Und bei ihrem Thema: die Masse der Arbeiter und die Intellektuellen. Gemeinsam! Gemeinsam haben sie gesiegt, friedlich gesiegt noch dazu. Es war der Erfolg der Unterprivilegierten, der kleinen Leute. Die unterdrückten Arbeiter und die unterdrückten Intellektuellen gegen eine selbst ernannte Elite, die am Ende nur noch in ihrer engen sozialen Blase das Sagen hatte. ● ○