Tischgemeinschaften

Zusammen isst man weniger allein


In Zeiten von Instagram, Intoleranz und Instant-Nudeln wird das gemeinsame Essen zum Luxus. Doch ist die Vorstellung vom verbindenden Mahl überhaupt realistisch? Oder zeigen sich soziale Unterschiede gerade beim kollektiven Verzehr besonders drastisch?

Hätte in der Urzeit jemand versucht, ein Mammut im Alleingang zu erlegen, wäre er kläglich gescheitert. Teamwork war angesagt. Klar, dass alle Beteiligten die Beute danach teilten und gemeinsam verzehrten. So gingen auch Kranke, Schwache und Ungeschickte nicht leer aus. Das Ritual des gemeinsamen Essens: eine uralte Über­lebensstrategie. Im Neuen Testament besiegelten Tischgemeinschaften Zusammengehörigkeit, Vertrauen und Freundschaft – umso dramatischer der Verrat beim letzten Abendmahl. Die symbolische Bedeutung des Teilens von Brot hat sich längst in unserer Sprache niedergeschlagen, so ist der Compagnon wie der Kumpan oder Kumpel derjenige, mit (lateinisch: cum) dem man das Brot (panis) isst. 

Der angesehene Gastgeber Martin Luther hat die Absicht seiner Tafelgemeinde gut in Worte gefasst: „Gastmähler sollen dazu dienen, dass sie die Menschen fröhlicher machen und nach Traurigkeit das Gemüt wieder erquicken.“

Bis heute geht es um weit mehr als nur um Nahrungsaufnahme, wenn Menschen um einen Tisch Platz nehmen. Gemeinsames Essen sorgt für Nähe und schafft eine Verbindung. Soweit das Ideal. Der Alltag sieht oft anders aus: Die einen bevorzugen bio, die anderen billig. Moralische Bedenken, religiöse Vorschriften und diverse Unverträglichkeiten machen gemeinsame Mahlzeiten zu einer täglichen Herausforderung. Verlernen wir gerade, gemeinsam an einem Tisch zu sitzen?

Pakt und Politik

Bis ins elfte Jahrhundert galt ein gemeinsames Essen – bei Hof genauso wie unter Bauern – als bindender Vertrag. Ein Herzog, der am Krönungsfestmahl ordentlich zugelangt hat, bewies damit seine Absicht, die Pflichten im Königreich getreu zu erfüllen. Wer einen Acker übergab, beschloss den Verkauf mit einem gemeinsamen Essen. Der Bissen in die gebratene Gans galt als Unterschrift.

Auch wenn die rechtliche Verbindlichkeit solcher Mahlzeiten mit der Zeit verloren ging, blieb die symbolische Kraft erhalten: Der 80-jährige Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden endete mit einer Schützenmahlzeit. In Österreich war 1955 die Unterzeichnung des Staatsvertrags eingebettet in Tafelfreuden, vom Dejeuner des Bundespräsidenten mit gefüllten Eiern und Kaviar bis zum Festbankett in Schloss Schönbrunn, bei dem pochierter Zander und glacierte Ente aufge-
tragen wurden.

Bei Tomatencremesuppe, Seezunge und Rotwein schmiedeten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1962 Pläne für ein geeintes Europa, ein Jahr später beendeten sie mit dem Élysée-Vertrag den Zank zwischen Deutschland und Frankreich. Ob Christian Konrads Sauschädelessen oder das Schwammerlessen der Salzburger Festspiel-Society im Sacher: Politik wird auch heute noch bei Tisch gemacht.

Und raus bist du

„Essen ist die älteste und wichtigste kulturelle Handlung“, sagt Martin Hablesreiter, Lektor für Food Design und Teil des Künstlerduos Honey & Bunny. „Es verbindet, aber es schließt auch aus.“ Und das seit Anbeginn der Tischgemeinschaften: Im antiken Sparta teilten exklusive Männerrunden schwarze Suppe, Wild und Wein bei ihren Mahlen, den Syssitien. Im Mittelalter waren Frauen ausgeschlossen, wenn im Rittersaal die Herrschenden mit der Dienerschaft tafelten. Als sie dann zur Minnezeit den Rittersaal betreten durften, wurde vornehme Zurückhaltung verlangt. Sie aßen also weiterhin in den Frauengemächern. Bei den pompösen Tafeln im Barock schlugen sich gesellschaftliche Unterschiede in der strikten Sitzordnung nieder, die niedrig gestellten Gäste bekamen die letzten, kalten Reste. Ebenso mussten die Knechte einst den Löffel weglegen, sobald der Bauer fertig war. Bis heute manifestieren sich soziale Konstrukte beim Essen, analysiert Hablesreiter. Er verweist auf unsere fast adeligen Tischmanieren: „Adolph Freiherr Knigge wollte die Unterschiede zwischen den Schichten nivellieren, das ist ihm nicht geglückt. Wer das Weinglas falsch hält, gilt als Prolet.“

Der Traum vom Familientisch

Schon im Kindergarten sind gemeinsame Mahlzeiten sozialisierende Fixpunkte im Tagesablauf. Dabei werden Rituale gepflegt, Manieren gelernt, Werte vermittelt. Genauso daheim. Das regelmäßige Essen im Kreise der Familie wappnet fürs Leben. Therapeuten und Erziehungsberater suchen die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten nicht selten am Familientisch. Dieser bietet sich nahezu perfekt für den Aufstand an. Trotzige Dreijährige, die Essen auf den Boden schmeißen, vegane Teenager, der Schwager auf Dauerdiät – wer sein Besteck nicht anrührt, provoziert. Hablesreiter findet: „Eine Tischgemeinschaft ist immer auch Konflikt. Man merkt, dass es andere Essgewohnheiten, andere Ansichten gibt. Das ist gut so, die Gesellschaft muss lernen, andere Verhaltensweisen auszuhalten.“

Nicht nur aufsässige Kinder kratzen am Image des harmonischen Familienmahls, auch die Frauen sind längst aufgestanden. „Die klassische Tischgemeinschaft wird überschätzt“, warnt Martin Hablesreiter davor, das Relikt aus den 1950er-Jahren zu romantisieren. Es sei eine Manifestation des Patriarchats: Der arbeitende Mann setzt sich abends zu den Kindern an den Tisch, die Frau serviert nach langer Vorbereitung und hastet gleich wieder in die Küche. Kein Wunder, dass die Emanzipation und das Aufkommen von Fertiggerichten Hand in Hand gingen. In Zeiten von Individualisierung und Singleportionen verliere die Mahlzeit ihre Funktion als „Architekt des Familienlebens“. Das konstatierte der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann schon vor 15 Jahren.

Glück aus dem Karton

In den Wirtshäusern verwaisen die Stammtische, in die Sparvereine zahlt keiner mehr ein. Wir bestellen das Essen jetzt nach Hause, es kommt mit Pizzaflitzer und Fahrradboten. Wir legen die Beine hoch, löffeln Nudeln aus dem Karton. Die Lust zu essen, was, wann, wo und wie man möchte, siegt immer öfter über gesellschaftliche Konventionen. Für den Soziologen Kaufmann führt das zwar zur Auflösung der Familienbande und schlechten Ernährungsgewohnheiten, bringt aber eine enorme Freiheit: Frei von Zwängen, Essrhythmen, Hierarchien und Kodifizierungen fühle man sich plötzlich wild und erleichtert.

Rudeltätigkeit

Derweil gerät auch in den Spitzenrestaurants die gemütliche Gastlichkeit zunehmend zur Ausnahme. Als Kunstwerk inszenierte Gerichte, fototauglich arrangiert und von einer Küchenmannschaft samt glasweiser Getränkebegleitung derart präsentiert und kommentiert, dass dabei jedes Tischgespräch verstummen muss – gut für Instagram-Herzen, schlecht für die Gemeinschaft.

Die sozialen Medien tragen das Ihre dazu bei, dass unser Essverhalten zum Identitätsprojekt wird. Zeigt her eure Bowls, euer #plantbased #raw #vegan – du bist was du isst. Die Überzeugung ist fest verankert, Intoleranzen gibt es nicht nur bei Laktose oder Gluten. Denn will man das Bett mit jemand teilen, bei dem es schon am Tisch nicht funkt? Die Partnervermittlung Parship befragte Singles, was sie an potenziellen Partnern so gar nicht ertragen könnten: Für 74 Prozent der Befragten zählten dazu eine oder mehrere Ernährungsformen. Vegane Singles waren dabei mit 48 Prozent eindeutig die Verlierer am Datingmarkt.

Dabei zählen gemeinsame Essen zu den intensivsten Szenen unseres Zusammenlebens. Jede Hochzeit beweist, dass Liebe durch den Magen geht. Von der Osterjause bis zur Martinigans bietet das Jahr Anlässe für gemeinsamen Genuss. „Jemanden einladen heißt, für sein Glück sorgen wollen, solange er unter unserem Dache weilt“, konstatierte der Gastrophilosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin im Jahr 1825. 

Elisabeth Ruckser, Autorin und Gründerin der Ersten Waldviertler Bio-Backschule in Drosendorf, plädiert für einen entspannten Umgang mit Unterschieden bei der Ernährung. „Wer etwas weglassen will, soll es weglassen, wichtig ist, dass die Menschen miteinander reden und andere nicht ausgrenzen.“ Bei ihren Backworkshops versammeln sich die unterschiedlichsten Menschen um einen großen Tisch: „Wir kneten, riechen, formen und warten dann vor dem Ofen – das ist ein wunderbares Erlebnis. Das gemeinsam Gebackene schmeckt immer gut. Das hat eine ganz eigene Dynamik und Kraft.“ Gerade in einer Zeit der Individualisierung sind für Ruckser solche gemeinsamen Erlebnisse wertvoll: „Beim entspannten Kochen und Essen finden automatisch gute Gespräche statt, da stellt sich gegenseitiges Verständnis ganz von selbst ein.“

Auch Food-Design-Lektor Martin Hablesreiter macht sich keine Sorgen. Bei aller Kritik an Konventionen, Verpflichtungen und Vorlieben ist eines nämlich unumstößlich: „Wir essen einfach gern gemeinsam mit Leuten, die wir mögen. Essen ist eine Rudel­tätigkeit.“ ●○