EUYO

Ego nach hinten!


Die Mitglieder des European Union Youth Orchestra bewältigen schwierige Aufnahmetests und harte Probezeiten. Zusammenhalt und Enthusiasmus helfen ihnen bei ihrem enormen Arbeitspensum. Im Sommer gastiert die Talenteschmiede in Grafenegg.

Am Osterwochenende zeigt sich der Frühling in Grafenegg von seiner schönsten Seite. Die Sonne scheint vom blauen Himmel, es duftet nach Flieder, und die Besucher des Ostermarktes füllen die weitläufige Parkanlage, wo Verkaufsstände zwischen dem Schloss und dem Auditorium Kunsthandwerk, Wein und Lukullisches anbieten. Auf der hinteren Seite des Konzertsaals, dort, wo die alte Reitschule steht, hört man aus der Ferne Klänge von Anton Bruckners vierter Symphonie. 

Plötzlich zischt ein Caddy mit einer Gruppe junger Menschen samt Instrumenten vorbei. Sie tragen alle das gleiche blitzblaue T-Shirt, auf dem in großen weißen Buchstaben „European Union Youth Orchestra“ (euyo) geschrieben steht. Vor dem Bühneneingang macht der Wagen halt. Bruckner ist jetzt ganz deutlich zu hören, es ist Probenzeit. Die Musiker verschwinden hinter einer Glastüre, pünktlich für ihren Einsatz. Vor zwei Tagen ist das Jugendorchester samt Crew angereist, um sich auf das Konzert am Ostersonntag vorzubereiten. Anfang April ist das euyo zu seiner jährlichen Frühlingstour aufgebrochen, die es auch nach Italien, Luxemburg, Deutschland und in den Oman führt. Und im Juli bezieht das Orchester in Grafenegg für mehrere Wochen sein „Summer Home“ und bietet dem Publikum nicht nur Konzerte, sondern auch Workshops, Late Night Sessions und weitere ungewöhnliche Formate der Musikvermittlung.

Am Karsamstag lassen sich Lia Melo und José Agudo auf der Wiese die Sonne ins Gesicht scheinen. Lia spielt Viola und ist mit 17 Jahren die Jüngste im euyo. Als die Portugiesin vorigen Sommer erfuhr, dass sie das Vorspiel erfolgreich absolviert hatte und zu ihrer ersten Sommertour mit dem Orchester aufbrechen würde, ging für sie ein Traum in Erfüllung: „Ich hatte die beste Zeit meines Lebens.“ 

Kraft für die Karriere

Lia Melo war anfangs überrascht, dass es im Orchester keinerlei Konkurrenzgehabe gibt und man einander stattdessen motiviert und unterstützt. Das euyo ist tatsächlich einzigartig, und man muss es live gehört und gesehen haben, um zu verstehen, was diese Atmosphäre ausmacht. Hier geht es um viel mehr, als darum, 140 junge, begabte Musikerinnen und Musiker im Konzert zu erleben. Hier geht es um Enthusiasmus, Hingabe, Teamarbeit und Zusammenhalt; vor allem aber geht es um Respekt und Toleranz – seit über 40 Jahren. Das euyo verkörpert wie keine andere künstlerische Institution innerhalb Europas die verbindenden, friedensfördernden Ideale der EU.

Seit seiner Gründung 1976 hat das euyo unzähligen Mitgliedern die Möglichkeit geboten, wichtige Erfahrungen für die berufliche Zukunft zu sammeln: Solisten wie der griechische Geiger Leonidas Kavakos, der französische Cellist Gautier Capuçon oder der dänische Schlagzeuger und Dirigent Thomas Søndergård gingen aus dem euyo hervor. Das euyo bringt das symphonische Repertoire mit den Besten auf die Bühne. Dirigenten wie Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Leonard Bernstein, Colin Davis, Herbert von Karajan, Mstislav Rostropovich standen am Pult dieser Talenteschmiede, deren Absolventinnen und Absolventen später zu 90 Prozent in den besten Berufsorchestern der Welt spielen. Auch nach ihrem Abschied vom euyo bleiben ihm viele davon sichtlich verbunden: Als das Orchester 2016 in Finanzprobleme gerät, melden sich ehemalige euyo-Mitglieder von den Berliner Philharmonikern, dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks, dem Concertgebouw Amsterdam, dem römischen Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia und anderen zu Wort und bieten ihre Unterstützung an. 

José Agudo schätzt die freundschaftliche Verbundenheit mit seinen Kolleginnen und Kollegen. „Dieses Gemeinschaftsgefühl gibt mir Kraft, mich auf eine nachhaltige Karriere in der professionellen Musikwelt vorzubereiten“, sagt der 24-Jährige. Seit 2015 ist der spanische Posaunist Teil der euyo-Familie. Für sein Alter hat er ein beachtliches symphonisches Repertoire mit Dirigenten wie Gianandrea Noseda, Bernard Haitink oder Manfred Honeck erarbeitet und ist bereits im Konzerthaus Berlin, dem Concertgebouw, dem Wiener Musikverein oder den Proms in London aufgetreten. „Eigentlich habe ich hier alles gelernt, auch Englisch, sonst hätte ich meinen Master am Konservatorium in Amsterdam wahrscheinlich nie abschließen können.“ José lacht und fährt sich durchs dichte, schwarze Haar. Dann wird er plötzlich nachdenklich. „Dieser Sommer wird mein letzter beim euyo sein. Ich bin jetzt ein viel besserer Musiker und habe Freunde fürs Leben gefunden. Es fühlt sich richtig an, weiterzuziehen.“ Lia hofft, dass sie noch ein paar Jahre beim euyo bleiben wird, um künstlerisch zu reifen – und menschlich zu wachsen. 

Am meisten berührt mich der Augenblick, wenn das Konzert zu Ende ist.

Dafür muss sie sich, so wie alle anderen Orchestermitglieder, jedes Jahr aufs Neue beweisen. Alljährlich reisen zwischen September und Dezember Tutorinnen und Tutoren des Orchesters durch alle 28 EU-Mitgliedsstaaten, wo ihnen Tausende junge Bewerber und Bewerberinnen zwischen 16 und 26 vorspielen. Letztendlich werden 120 bis 160 Mitglieder ausgewählt. Einige bleiben ein Jahr, andere – so wie José – auch mehrere.

Im Frühjahr und Sommer treffen sich die Orchestermitglieder zu sogenannten „Arbeitsphasen“, das bedeutet drei Wochen intensives Training im italienischen Ferrara, dem neuen Hauptsitz des Orchesters. In der ersten Woche übt man in Gruppen, dann im Ensemble mit Leiter Peter Stark. Anschließend beginnen die Proben mit Vasily Petrenko, dem Chefdirigenten des euyo. Schließlich geht es gemeinsam auf Tour. Es ist ein straffer Tagesablauf zwischen Üben, Proben, Reisen und Auftreten. Jedes Jahr werden der Maestro und seine Schützlinge auf ihren Tourneen bejubelt. Stress? „Natürlich arbeiten wir hart, um gut zu spielen“, sagt Lia Melo. „Während des Konzerts erinnere ich mich an die vielen wunderbaren Momente, die ich während der Tournee erlebt habe. An unsere freien Tage und an die schönen Städte, die wir gemeinsam bereisen. Am meisten berührt mich der Augenblick, wenn das Konzert zu Ende ist. Wir sehen uns an, lachen und umarmen uns. Diese hundertprozentige Hingabe ist einzigartig.“

Keine Distanz, keine Allüren

Während der Probenpause in Grafenegg unterhält sich Vasily Petrenko mit ein paar euyo-Mitgliedern über Richard Strauss’ „Mondschein-Musik“, die sie gemeinsam mit dem Tenor Michael Schade im Grafenegger Auditorium aufführen werden. „Anders als im Profi­orchester sprechen wir viel über das, was sich hinter den Noten verbirgt und was der Komponist mit seiner Musik ausdrücken wollte“, sagt er im morgen-Interview. Trotz seiner 42 Jahre wirkt der gebürtige Russe jugendlich, trägt lässige Jeans und ein legeres Sommerhemd. Keine Distanz, keine Allüren. Wahrscheinlich falle es ihm leichter als einem 70-jährigen Maestro, 20-Jährigen etwas über die Musik und das Leben zu erzählen, meint er. Petrenko weiß um seine besondere Verantwortung, mit Jungen zu arbeiten, sie zu begleiten und bestmöglich auf das Leben nach dem euyo vorzubereiten.

Einsatz und Enthusiasmus

Immer wieder spricht er mit den Stimmführern und erklärt ihnen, wie man sich im Orchester positioniert. Was bedeutet es, zu führen und zugleich Teil einer Gemeinschaft zu sein? Wie findet man das Gleichgewicht zwischen Freundlichkeit und Bestimmtheit, Freiheit und Klarheit? Wie sieht gelungene und inspirierende Kommunikation innerhalb der verschiedenen Instrumentengruppen aus? „Das Wichtigste ist, einander zuzuhören. Ein Orchester ist ein homogener Klangkörper, da sollte man sein eigenes Ego möglichst weit hinten anstellen“, so Petrenko. „Dazu kommt die Neugierde. Wer neugierig ist, bewahrt sich einen frischen Blick. Im euyo lieben alle, was sie tun. Die Arbeit ist ihre Leidenschaft, ohne die sie nicht leben können. Und sie arbeiten hart, um hier sein zu können. Ich finde, das kann man auch mit der Europäischen Union vergleichen. Wir sollten mit Einsatz und Enthusiasmus an diesem Projekt arbeiten. Jeder einzelne trägt Verantwortung für die Gemeinschaft – im Orchester wie in Europa.“ 

Auch Lia und José stimmen überein, dass sich die EU etwas von der Arbeit des euyo abschauen könnte. „Was dieses Orchester so bereichert, sind die vielen unterschiedlichen Menschen und Kulturen, die hier zueinanderfinden und eine Einheit bilden“, sagt die 17-Jährige. Worte, die schmerzlich daran erinnern, wie weit sich Europa von Begriffen wie Gemeinschaft, Offenheit und Toleranz entfernt hat. 

Als am Ostersonntag die letzte Note von Bruckners vierter Symphonie verstummt ist und sich nach Augenblicken der Stille plötzlich frenetischer Applaus entlädt, sind alle Sorgen erst einmal verflogen. Die Musikerinnen und Musiker fallen einander in die Arme, und ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllt das Auditorium. Für einen Abend war das Publikum Teil dieser einzigartigen Gemeinschaft. ●○

Das EUYO gastiert von 9. bis 28. Juli in Grafenegg.
Veranstaltungen: „The Music Gallery“ bei freiem Eintritt (21. Juli, 14.30 Uhr), „Ode an die Freude“ (27. Juli, 20.00 Uhr). Workshops und Lectures bieten Einblick in das Innere des Orchesters.